Leiden am Berg

Aus der Ferne sieht er aus wie ein unförmiger Klotz, der nicht zur lieblichen Provence passen will. Hobby-Radler aus halb Europa flüstern seinen Namen mit grossem Respekt: Mont Ventoux. Der Schweizer Veloprofi Beat Breu, der in den Achtzigerjahren am Berg die Konkurrenz oft stehen liess, würde ihn «einen Sauhund» nennen. Ich habe mich an diesem legendären Tour-de-France-Pass versucht. Protokoll eines episch langen Aufstiegs.

Auf meinen Velotouren habe ich etwas schnell gelernt: Nichts geht über Haferbrei am Morgen! So gibt es auch heute einen grossen Topf davon, angereichert mit Nüssen, Bananenrugeli, Trauben, Honig und Gewürzen. Während ich Löffel um Löffel in den Mund schiebe, bin ich mental schon unterwegs.

Ich schwinge mich aufs Rad und blicke auf die Uhr. Es ist 9.50 Uhr. Aus dem Nichts imitiere ich SRF-Moderator Arthur Honegger: «10vor10 – das ist der Blick hinter die einzige Schlagzeile des Tages: Schafft es Bausi auf den Monsterberg? Wir sind dabei!»

Langsam rolle ich über die farbigen Herbstblätter, die am Boden liegen. Von Malencène aus beginnt der Kampf am Berg. Vor mir liegen 21 Kilometer und 1580 Höhenmeter bis zur Passhöhe. Der Mont Ventoux sei sehr anspruchsvoll, haben mir schon viele Velofahrerinnen erzählt, die Steigung variiert zwischen 4 und 14 Prozent. Ich habe Respekt. Zugleich rufe ich mir in Erinnerung, dass ich vergleichbare Pässe in der Türkei und in Armenien auch schaffte – mit deutlich mehr Gepäck und bei mehr als 30 Grad. «Ça marche!», rede ich mir zu.

Schon bald habe ich einen Rhythmus gefunden. Eine fröhliche Wandergruppe wünscht mir vielstimmig «bonne route!». Die Temperatur ist angenehm, ich atme die frische Waldluft tief ein, da macht sich aus dem Nichts der Mistral bemerkbar. Gefühlt wird es 10 Grad kälter. Ein paar Minuten später ist er wieder weg, die Sonnenstrahlen wärmen meinen Rücken. Das tut unendlich gut. Ich kurble weiter.

Am Berg fahre ich immer sehr langsam, weil ich meine Grenzen kenne. Für die heutige Etappe habe ich festgelegt, 5 Kilometer und 400 Höhenmeter pro Stunde zurückzulegen, «auso nume ned gschprängt». Am Strassenrand mache ich einen gelb-weiss markierten Stein aus: Noch 20 Kilometer, die Steigung beträgt aktuell 9 Prozent. Zwei Momente lang überkommen mich Zweifel: «Schaffst du das?» Mein T-Shirt ist schon schweissnass.

Die Ruhe ist herrlich. Es gibt nur den Wald und mich. Manchmal rauschen die Baumkronen leise im Wind. Glücksgefühle kommen auf, ich liebe diese Phasen. Dann wird der Anstieg ruppig – 12 Prozent. Ein Schweisstropfen trifft den Lenker, eine halbe Minute ein zweiter, ein dritter. «Was macht ihr da?», frage ich sie halblaut. Wie immer, wenn ich allein radle, führe ich Selbstgespräche.

Ein Gümmeler schiebt sich an mir vorbei und mustert dabei «Yellow Jeff» und mein Gepäck. «Bonjour!» Ich erwidere seinen Gruss und staune über seine Leichtigkeit, während ich im zweiten Gang kräftig treten muss. «Hätte ich doch ein kleineres Ritzel montiert!», schelte ich mich. Diese Selbstkritik wurde in den letzten Jahren zu einem Evergreen. Selbst schuld.

Nach einer halben Stunde fühlen sich die Oberschenkel schon ziemlich hart an, ich muss eine Pause einlegen. Ich stakse herum wie ein Graureiher auf Futtersuche, strecke mich der Sonne entgegen und massiere die Muskeln. Und wieder melden sich Zweifel: «Schaffst du das?»

Der feine rote Strich am Navigationsgerät zeigt an, wo am Berg ich mich befinde – noch nirgendwo. Ermutigender ist die Zahl nebenan: 450 Höhenmeter habe ich hinter mir, also ungefähr einen Viertel. Es ist 10.50 Uhr und wieder gebe ich den Arthur Honegger: «10 vor 11 – der Schweiss läuft, der Protagonist kämpft, seine Muskeln sind hart. Schafft er es bis hinauf? Bleiben Sie dran!», gebe ich mit sonorer Stimme von mir.

Ein Pärchen mit schiggen Rennvelos und schiggen Dresses schliesst zu mir auf. Nach einem kurzen Wortwechsel können wir Mundart weiterreden. Sie kommen aus Basel und klingen auch so. Bald fehlt mir die Luft für eine brauchbare Konversation, und die beiden ziehen davon. Wieder löst sich ein Schweisstropfen von der hohen Stirn und trifft den Lenker.

Nach Kilometer 9 beträgt die Steigung 14 Prozent. Ich mühe mich keuchend im ersten Gang ab, spüre, wie mein Herz pumpt, und leide. «Stuzzi Cadenti!»

Der Blick wird frei auf die Region. Er ist spektakulär, aber ich kann ihn nicht geniessen. Also: pausieren. Ich setze mich ins Gras und packe ein kleines Picknick aus: einen Schockoriegel, der besser schmeckt als er aussieht, Haselnüsse und eine Nektarine. Für jeden Bissen lasse ich mir Zeit.

Je höher ich klettere, desto kälter wird es. Wenn ich ausatme, bilden sich Wölkchen. Wieder macht sich der Mistral bemerkbar.

Unangemeldet entfährt mir ein lauter Furz. Ich erschrecke. «Pardon!», murmle ich in die Stille hinaus und muss grinsen. Da ist niemand weit und breit, der Wind zerstäubt die Duftnote sofort.

Ein grosser Parkplatz wird sichtbar, an dessen Ende steht ein Gebäude. Als ich näherkomme, stellt es sich als ein Restaurant heraus. «Ouvert» prangt am Eingang in grünen Lettern. «Ein Geschenk des Himmels!», juble ich innerlich. Minuten später dampft eine heisse Schokolade vor mir. Ich halte die grosse Tasse mit beiden Händen und spüre, wie die Wärme zurückkommt. Die Uhr zeigt 11.50 Uhr. «Es ist 10 vor 12! – der Kampf wird hart und härter.» Die Honeggersche Schlagzeile gebe ich halblaut von mir. Die Leute am Nebentisch schauen mich verwundert an, ich zucke entschuldigend die Schultern.

Draussen ist es bissig kalt. Ich ziehe die Windjacke über und die Wollkappe noch tiefer ins Gesicht. Es fehlen noch 500 Höhenmeter, «come on, das schafft du!», mache ich mir selbst Mut. Die Strasse wird schmaler. Im Rückspiegel kommt etwas auf mich zu. Ein paar Sekunden später surrt ein E-Biker an mir vorbei, «Weichbecher!», zische ich. In einer Kurve steht eine Frau mit blonden Zöpfen und einem rotem Kopf. «Ça va?», frage ich und denke: «Doofe Frage.» Sie antwortet mit einem Schwall an Worten, die ich als Niederländisch verorte.

Weiterkurbeln. Schwitzen. Leiden.

Längst wurden die Föhren durch Eichen abgelöst. Auf beiden Seiten der Strasse wächst Moos. Meine Kraft hat nachgelassen. Praktisch immer fahre ich im ersten Gang und kann ihn nicht mehr richtig durchtreten. «Ach, das Ritzel, das verdammte Ritzel!»

Die Holländerin hat wieder aufgeholt. Zwei Minuten rollen wir nebeneinander bergan und schweigen. Dann fragt sie unvermittelt: «Why are we doing this?» Ich muss mich konzentrieren, um überhaupt eine verständliche Antwort zu formulieren. «Cause we are nuts!» Sie nickt nur, tritt in die Pedale und setzt sich von mir ab.

Plötzlich taucht ein Turm über den Baumwipfeln auf. Kein Zweifel, das muss das Gebäude auf der Passhöhe sein. Die Perspektive auf ein baldiges Ende der Plackerei wirkt besser als Koffein. Aus «Schaffe ich das?» wird «Ich schaffe es!»

Weiterkurbeln.

Die Baumgrenze liegt hinter mir. Der Blick in die Weite ist atemberaubend. Dieses Mal kann ich ihn geniessen. Bei der nächsten Spitzkehre setzt der Wind wieder ein. Er ist eisig und trägt eine milchig-weisse Wand mit sich. Die Nebelschwaden erschweren die Sicht. Ich mache mit klammen Fingern ein paar Fotos, der rote Strich auf der Navigations-App ist fast auf der Bergspitze angelangt. Mehrere Velofahrerinnen und -fahrer rollen vorsichtig die Strasse runter. Einige von ihnen feuern mich an: «Allez!», Daumen hoch, «Good job!» Das motiviert.

Mein Körper ist unterkühlt. Ich strample weiter. Honeggers «10 vor 1»-Ausgabe lasse ich aus. Es fehlen mir der Schnauf und die passende Schlagzeile.

Wegen des Nebels sehe ich vielleicht noch 20 Meter weit. Schliesslich ist sie laut Navigation da, die allerletzte Kurve. Ein mächtiger Gebäudekomplex wird rechter Hand sichtbar. Auf der Passhöhe steige ich ab, was ähnlich viel Zeit braucht, wie wenn Joe Biden zu einem Rednerpult trippelt.

Ich schlüpfe in die Regenhosen, die letzte Schicht, die ich dabei habe. Mir ist kalt bis auf die Knochen. Ein anderer Tourist fotografiert mich vor der obligaten Tafel, die mit Klebern übersäht ist. Der Wind heult und mir wird klar, wieso der Berg Ventoux heisst – der Wind ist überall.

Ein Mann mampft stoisch an seinem Sandwich und schaut in die Ferne. Ich habe keinen Hunger, sondern will so schnell wie möglich den Berg hinunter. «Zur Belohnung des Tages darfst du für einmal Warmduscher sein», erkläre ich mir selber.

Plötzlich steht die Holländerin mit einem lachenden Gesicht vor mir. Unsere Hände klatschen zusammen – «High Five»! Wir haben den «Sauhund» geschafft.

Das Streckenprofil stammt von der Website quaeldich.de

Nemo ist nicht Bundesrätin Keller-Sutter

Seit Monaten hat sich ein Mob auf Nemo eingeschossen. Aus dem Nichts kommt das nicht. Dennoch sollten Medien und PR-Leute verantwortungsvoller mit dem Star aus Biel umgehen. Der Abbruch eines Interviews mit ihm schadet letztlich allen.  

Direkt nach dem Auftritt am Lakelive Festival sprach Nemo mit dem «Bieler Tagblatt». Als die Journalistin eine Frage zum «politisch aufgeladenen ESC» in Malmö stellte, intervenierte die Presseverantwortliche des Stars. Schliesslich brach Nemo das Gespräch ab, weil «sich jede Frage wie eine Provokation anfühlt». Am Samstag wurde das Rumpf-Interview publiziert und schlägt seither Wellen. (Es ist hier als PDF verlinkt.)

Natürlich, es gehört zum Job der Journalistinnen und Journalisten, Fragen zu stellen. Natürlich, Interviews sollen kritisch sein. Tatsache ist, dass sie es in den Bereichen Sport, Kultur und Showbusiness oftmals nicht sind, weil den Medienschaffenden die Distanz fehlt oder sie sogar Fans sind. Selbst Roger Schawinski, der härteste Talker der Nation, stellte keine harten Fragen mehr, als er Emil zu Gast in seiner Sendung hatte.

Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Sängerinnen wollen alle dasselbe: in den Medien gut herüberkommen. Vor, während und nach Interviews tun sie und ihre Entouragen alles, um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollen die Bedingungen diktieren, Redaktionen lassen sich nicht selten darauf ein, weil sie Prominenz und Exklusivität hoch gewichten. Das Resultat sind glattgebügelte Interviews, die uns beim Lesen langweilen.

Ich habe früher oft über Musik geschrieben und viele Interviews geführt, etwa mit Marla Glen, Kuno Lauener, 4 Non Blondes oder Gianna Nannini. Das war manchmal beglückend und manchmal zäh. Und manchmal sagten die Stars Dinge, die sie in die Bredouille gebracht hätten. Ich liess allzu Provokatives oder Unreflektiertes stets weg – zuweilen müssen Künstlerinnen und Künstler vor sich selbst geschützt werden.

Der Fall von Nemo ist anders gelagert: Das Talent aus Biel wird seit Monaten im grossen Stil mit Bösartigkeiten und Hass eingedeckt: Zum einen, weil es nicht-binär ist und ein drittes Geschlecht propagiert, zum anderen, weil es beim ESC den Boykottaufruf gegen Israel mitgetragen haben soll.

Nemo zu den Vorgängen in Malmö keine kritischen Fragen zu stellen, wäre unjournalistisch, natürlich, aber die Medien haben auch eine Verantwortung, nicht unnötig Öl ins Feuer zu giessen. Was im «Bieler Tagblatt» seinen Anfang nahm, hat den Mob sofort mobilisiert.

Keine überzeugende Rolle spielte Nemos Management: Zunächst legte es schriftlich fest, dass die Journalistin auf politische Fragen verzichten solle, rückte aber später wieder davon ab. Zudem verzichtete es darauf, das Interview zurückzuziehen.

Was wir nicht vergessen sollten: Nemo ist gerade einmal 25 Jahre alt und erst seit dem letzten Mai auf der Weltbühne. Im eigenen Lager ist Nemo eine Ikone, für andere eine Hassfigur, allein der Name triggert enorm. Das legt nahe, einen anderen Massstab anzuwenden, als beispielsweise bei Karin Keller-Sutter, die seit 24 Jahren Berufspolitikerin ist.

Foto: Benjamin Ramsauer, SRF

Dieser Beitrag ist zuerst bei «Persönlich», dem Portal der Kommunikationsbranche, erschienen. 

Als wir England mit 2:1 schlugen

Die Fans strömen aus allen Richtungen herbei, das «Joggeli» füllt sich. Das Fussballstadion in Basel ist alt und sanierungsbedürftig, aber es atmet Geschichte. Es ist der erste Match der Schweizer Fussballnationalmannschaft, bei dem ich als Zuschauer dabei bin, und es sollte ein grosser Abend werden.

Ich war Teenager und Fussball hatte einen grossen Stellenwert in meinem Leben. Bei jeder Runde der Nationalliga A hörte ich Radio DRS, das die wichtigsten Spiele jeweils live übertrug. Mein Lieblingsclub war Servette Genf, weil er den attraktivsten Fussball spielte. Wenn Sportreporter Mario Santis Stimme aus dem Äther klang, wurde er noch eine Klasse besser.

Dass ich an ein WM-Qualifikationsspiel gehen konnte, war ausserhalb meiner Vorstellungskraft. Doch da überraschte mich mein Vater: «Filius», sagte er eines Abends, «Schweiz – England schauen wir uns im Stadion an.» Das fühlte sich an wie Weihnachten! Ein paar Schulfreunde durften auch mitkommen.

Mit dem Zug fuhren wir nach Basel, und schon unterwegs waren wir aufgekratzt. Die Vorfreude war kaum zu bändigen – endlich mittendrin! Wir schreiben den 30. Mai 1981, ein milder Samstagabend.

Im «Joggeli» stellen wir uns auf der Höhe der Mittellinie hin. Um uns herum hat es viele Romands. Mit unseren schüchternen Französischkenntnissen verständigen wir aus auf einen gemeinsamen Schlachtruf. Er klingt überzeugend und geht so: «Hopp Suisse, hopp Suisse!» (Dass die Romands das «H» nicht richtig aussprechen konnten, amüsierte mich im Stillen.) Wir schreien ihn den ganzen Abend, ohne müde zu werden.

Was auf dem Rasen passiert, ist verzückend. Die Schweiz beginnt selbstbewusst und abgeklärt. Wir Fans spüren: Da liegt etwas in der Luft. Der neue Trainer Paul Wolfisberg (im Bild rechts) hatte innerhalb von kurzer Zeit eine Mannschaft zusammengeschweisst, die nicht nur ansprechend spielt (wie zuvor), sondern auch gute Resultate erzielt. Nach vielen Jahren war die Teilnahme an einer Endrunde endlich wieder in Griffweite. «Olé España!» (Es ging um die Qualifikation für die WM 1982 in Spanien.)

Nach einer halben Stunde schiesst Fredi Scheiwiler den Führungstreffer. 40’000 Fans hüpfen auf und ab. Keine zwei Minuten später doppelt Claudio Sulser nach. Der Jubel im Stadion kennt keine Grenzen, wir können es kaum fassen: Die Schweiz führt gegen England, dort, wo die Wiege des Fussballspiels steht, mit 2:0!

Plötzlich kommt eine andere Dynamik auf: Auf den Rängen fliegen faustgrosse Steine durch die Luft. Mehrere Dutzend Engländer gehen auf die Schweizer Fans los, ein Securitas-Wächter wird zu Boden geschlagen.

Der Match wird unterbrochen, die Bühne hat sich gedreht: 22 Spieler und drei Schiedsrichter schauen zu, was auf den Stehplätzen passiert. Die Schlägereien sind heftig, wir haben Angst, können aber nicht davonrennen.

Nach ein paar Minuten klingen die Aggressionen ab, die Hooligans ziehen sich zurück. Der Match geht weiter. England gelingt der Anschlusstreffer. Die Phase des Leidens beginnt – für Wolfisbergs Elf auf dem Rasen, für uns auf den Rängen.

Doch den Sieg lassen wir uns nicht mehr nehmen! Nach dem Schlusspfiff gleicht das «Joggeli» einem Tollhaus, Wildfremde umarmen sich und schreien ihre Freude in den Nachthimmel hinaus.

Berauscht marschieren wir zurück zum Bahnhof. Immer wieder reissen wir die Arme in die Höhe, unsere Stimmen geben nur noch ein heiseres Krächzen von sich. Egal. Das Adrenalin pumpt weiter. Was für ein Sieg, was für ein Abend!

In den verflossenen 43 Jahren hat mich kein anderer Match mehr ähnlich mitgerissen wie damals. Auch wenn die Schweizer Nati heute Abend im EM-Viertelfinal England schlägt, wird das so bleiben. «Big Money» und schmierige Figuren wie Sepp Blatter und Gianni Infantino haben den Männerfussball kaputt gemacht.

Die Gretchenfrage lautet: Was ist uns Journalismus wert?

Die Libertären wetzen ihre Messer schon lange. Sie wollen mit ihrer Halbierungsinitiative die verhasste SRG ausbluten lassen. Gestern haben sie einen Teilerfolg errungen (hier solid zusammengefasst). Der Bundesrat senkt die Medienabgabe schon wieder, zudem werden neu 80 statt wie bisher 75 Prozent aller Firmen von der Serafe-Gebühr befreit.

Ein Privathaushalt bezahlt künftig noch 300 statt 335 Franken pro Jahr. Pro Monat bleiben also 3 Franken mehr im Portemonnaie. Mit Verlaub, das als Entlastung anzupreisen, ist eine Lachnummer!

Über die Halbierungsinitiative, welche die Gebühren auf 200 Franken reduzieren will, stimmen wir voraussichtlich im Jahr 2026 ab. Im Parlament regen sich aber bereits mehrere Figuren, die ihr eigenes Süppchen kochen wollen, konkret: Es wird Gegenvorschläge geben.

335 Franken, 300 Franken, 200 Franken, 280 Franken – es geht schon seit Monaten fast ausschliesslich nur um Preisschilder. Das ist erbärmlich. Es bräuchte eine Debatte über den medialen Service public. Es geht um Fragen wie: Was ist uns Journalismus wert?

Für eine solche Debatte bräuchte es Basiswissen. Ich liefere fünf Punkte:

– Die privaten Medien in der Schweiz haben ein massives Finanzierungsproblem. Inzwischen fliessen jedes Jahr 2 Milliarden Franken an Werbegeld zu den Tech-Giganten wie Google und Meta (Facebook, Instagram). Die Konsequenzen: Abbau, Ausdünnung des Angebots, Verflachung.

– In den letzten 20 Jahren sind in der Schweiz rund 70 Medientitel verschwunden. Das führt zu einer Verarmung. Natürlich gab es in derselben Zeitspanne auch Neugründungen, doch von ihnen schafften bislang kein halbes Dutzend den «Break Even», also eine ausgeglichene Rechnung. Die Erkenntnis: Journalismus ist kein Geschäftsmodell mehr. Es braucht ein starkes Medienhaus, das gebührenfinanziert ein breites Angebot liefert, und zwar überall dort, wo die Menschen sind, also auch online und auf Social Media.

– Ein Privathaushalt gibt laut Bundesamt für Statistik im Durchschnitt jährlich 3168 Franken aus für Medien. Darunter fallen Zeitungen, Bücher, Streaming-Dienste wie Spotify, usw. Die Medienabgabe beträgt 335 Franken. Mit anderen Worten: Die Serafe-Gebühren machen nicht einmal 12 Prozent der Gesamtausgaben für Medien aus.

– Die SRG ist die grösste Kulturproduzentin im Land. Im Jahr 2023 unterstützte sie rund 190 Film- und Serienprojekte, wie zum Beispiel «Davos 1917». Viele von ihnen hätten sonst nicht realisiert werden können. Kultur sorgt für Reibung, Emotionen, Wissen, Verständnis für andere, Zusammenhalt. Sie hat einen unschätzbaren Wert.

Die allermeisten Produktionen rechnen sich nicht. Private Medien hingegen realisieren nur, was sich rechnet, sonst könnten sie nicht überleben. In der kleinräumigen Deutschschweiz lassen sich Serien wie «Der Bachelor», «Die Bachelorette» und «Bauer ledig sucht» am Markt finanzieren.

– Seit nunmehr 20 Jahren wächst bei den Medienhäusern der Online-Bereich stetig. Die Transformation ist in vollem Gang. Die BBC, die von Grossbritannien aus weltweit journalistische Standards setzt, baut sich so um, dass ab 2030 die allermeisten Angebote nicht mehr linear, sondern nur noch on demand, vorab mit Apps, ausgespielt werden.

Medien, die die Transformation nicht schaffen und ihre Angebot nicht attraktiv im Netz präsentieren, sind in ein paar Jahren tot. Das gilt auch für die SRG. Schon jetzt sind dem öffentlichen Medienhaus enge Grenzen gesetzt, wenn es um die Präsenz im Netz geht. Beiträge ohne Bezug zu Radio- oder Fernsehsendungen dürfen beispielsweise nicht länger als 1000 Zeichen sein. Das entspricht zwei kurzen Abschnitten.

Jede weitere Einschränkung schwächt die SRG. Dass sich die privaten Medien ohne Konkurrenz der SRG im Netz besser entwickeln würden, ist eine Behauptung. Erhebungen in anderen Ländern zeigen, dass die privaten Medien von einem starken gebührenfinanzierten Anbieter profitieren. Die «böses Feinde» sind die Streamingdienste, die die Leute im grossen Stil an sich binden, und die Tech-Giganten im Silicon Valley, denen das Werbegeld zufliesst.

Wenn dich diese Argumente überzeugen, ist das der richtige Zeitpunkt, um jetzt Teil der Allianz Pro Medienvielfalt zu werden. Die Community wächst – hier lang:

Mein fünftes Baby kommt

Das Tempo, das wir anschlagen, ist rasant. Für nichts nehmen wir uns mehr richtig Zeit. Ausgedehnte Velotouren sind das Gegenmodell: sie entschleunigen und reduzieren das Leben auf das Wesentliche. Mich machen sie glücklich.

Einen Sommer lang fuhr ich ostwärts – bis in den Iran. Diese Reise gibt es jetzt zwischen zwei Buchdeckeln. Du kannst mitfahren, mitfiebern und dich hoffentlich mit mir freuen – schweissfrei und in deinem Tempo.

Mein fünftes Buch ist ein Liebhaberprojekt. Eine Leseprobe von «Immer weiter ostwärts» und das Bestellformular gibt es auf der Website meiner Firma.

Es ist kurzsichtig, der SRG die Mittel weiter zu kürzen


Der Bundesrat verordnete gestern, dass die Empfangsgebühren für Radio und Fernsehen von 335 auf 300 Franken pro Haushalt sinken. Es handelt sich um die dritte Reduktion seit 2017. Albert Rösti & Co. versuchen damit, der Halbierungsinitiative der SVP den Wind aus den Segeln zu nehmen (diese fordert 200 Franken).

Ich halte diese Entscheidung für falsch und mutlos.

Wenn etwas geändert werden soll, wird üblicherweise zuerst abgeklärt, was es in Zukunft braucht. Erst dann fragt man nach dem Preis. Ich gehe auch nicht in den Supermarkt und frage an der Kasse, was ich für 50 Franken kriege. Vielmehr überlege ich mir, was ich an Vitaminen, Kohlenhydraten und Proteinen brauche, um mich gesund zu ernähren. Also fülle ich meinen Korb entsprechend und bezahle an der Kasse, was die Lebensmittel kosten.

Gesunde Ernährung ist auf die Dauer wichtig, sonst gibt es Mangelerscheinungen. Genauso ist es beim Medienkonsum. Ohne unabhängige Information, einen breiten Service public, Unterhaltung und Live-Sport, verkümmert etwas. Junk macht krank.

Die Reduktion für private Haushaltungen und das Wegfallen der Unternehmensabgabe für weitere 60’000 Firmen hat einschneidende Auswirkungen. Nach 2018/2019 kommt es zu einem weiteren Leistungsabbau. Würde man ihn ausschliesslich aufs Personal abwälzen, müssten grob berechnet 850 Stellen weg.

Das wird nicht passieren. Aber das Angebot wird spürbar reduziert. So wie die Menschen in unserem Land funktionieren, werden sie unzufrieden sein, wenn die Sparübungen dereinst umgesetzt sind.

Was der Bundesrat verordnet, ist der falsche Weg. Aus drei Gründen:

👉
Die Kaufkraft für einen privaten Haushalt steigt wegen einer Differenz von 35 Franken pro Jahr kaum merklich.
👉 Die libertäre Truppe um Nationalrat Thomas Matter (SVP) wird ihre Halbierungsinitiative nicht zurückziehen, sondern weiterhin Lärm machen und Desinformation betreiben.

👉 Ein Gegenvorschlag aus dem Parlament ist damit nicht vom Tisch, im Gegenteil: Einzelne Figuren werden versuchen, die Unternehmen noch weiter zu entlasten. Zur Klärung: Schon jetzt sind rund 75 Prozent aller Firmen von der Serafe-Abgabe befreit.

Dass Firmen ab einer gewissen Umsatzgrenze etwas bezahlen müssen, finde ich richtig. Ein Beispiel: Eine Autogarage mit 4 Millionen Franken Umsatz bezahlt zurzeit 900 Franken pro Jahr. Von morgens bis abends läuft bei ihr das Radio – im Büro und in der Werkstatt. Das darf etwas kosten.

Journalismus ist kein Geschäftsmodell mehr, den privaten Medien in der Schweiz geht das Geld aus. Inzwischen fliessen jedes Jahr 2 Milliarden Franken an Werbegeld zu den Tech-Giganten, also zu Amazon, Google und Meta (Facebook & Co.). Die Konsequenzen: Abbau, Abbau und nochmals Abbau. Vor wenigen Wochen hat der Medienkonzern TX Group (Tamedia) die nächste Sparrunde angekündigt. CH-Media wiederum gab gestern bekannt, 150 Stellen abzubauen.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es kurzsichtig, dem öffentlichen Medienhaus noch mehr Mittel zu entziehen. Vergesst das mit den gleich langen Spiessen – sie sind zerbrochen! Die SRG ist nicht schuld daran, dass Werbegeld mehr und mehr im Ausland investiert wird. Wenn sie weiter geschwächt wird, geht es den privaten Medien nicht besser – im Gegenteil: Die Spirale dreht weiter abwärts.

Ich bin besorgt – du auch? Sich bei der Allianz Pro Medienvielfalt einzutragen, ist der nächste Schritt. 2500 Einzelpersonen haben das schon getan. Wir müssen wachsen. Hier lang.

 

 

Ergänzend: Ein unaufgeregter Text aus dem «Journal 21» zeigt auf, weshalb ein unabhängiger öffentlicher Rundfunk so wichtig ist.

 

 

Foto: Radio SRF

Die gute Seele in Goris

Als Marietta jung war, träumte sie davon, die Welt zu bereisen. Doch ihr fehlte das Geld und so blieb sie in Goris, einer Kleinstadt im Südosten Armeniens und gründete eine Familie.

Dort lernte ich sie im August letzten Jahres auf meiner Velotour in den Iran kennen, nachdem ich mehrere Tage durch die wilden Bergen geradelt war.

Goris liegt still da im prallen Sonnenschein. Es ist heiss und staubig und die Strassen sind menschenleer. Per Zufall entdecke ich ein diskretes Schild, das an einer charmefreien Liegenschaft auf eine Herberge hinweist. Ich drücke auf die Klingel – nichts.

Ich schiebe das Velo an, da schwingt im ersten Stock ein Fenster auf und ein rundes Gesicht wird sichtbar. Die Frau in meinem Alter lächelt und fuchtelt mit den Händen herum. Eine Minute später öffnet sie die Türe und schliesst mich in die Arme. Die Begrüssung macht mit baff, ich habe keine Zeit, mich meiner durchgeschwitzten Klamotten zu schämen.

Marietta hilft mir, die Fahrradtaschen hochzutragen. Ihre Herberge besteht aus einer Küche und drei einfachen, aber sauberen Zimmern. Ich bin noch am Auspacken, als sie schon einen Jus und eine Schale mit Früchten bringt. Ich lange dankbar zu.

Nach der Dusche setze ich mich zu ihr in die Küche, und wir unterhalten uns wie alte Bekannte. Marietta erzählt mir von der Geschichte Armeniens und sie erwähnt, dass ausserhalb von Goris militärische Stellungen gebaut worden waren. Von dort aus würden die Angriffe der aserbaitschanischen Armee abgewehrt. In den letzten Jahren ist es immer wieder zu Scharmützeln gekommen.

Die Wände von Mariettas Herberge sind vollgeschrieben, anstelle eines Gästebuchs hinterlassen die Leute ihre Worte des Dankes auf diese Weise. Marietta ist eine warmherzige wunderbare Gastgeberin. «Weisst du, weil ich selber nicht reisen kann, lade ich die Welt zu mir nach Hause ein.»

Ich bleibe zwei Tage bei ihr, erhole mich von den Strapazen und labe mich an den Köstlichkeiten, die sie mir in ihrem Garten auftischt.

Seit ein paar Tagen ist Goris ein Brennpunkt des Konflikts, der wieder aufgeflammt ist. Die Region Bergkarabach gehört zwar zu Aserbaitschan, wird aber mehrheitlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt. Der Angriff der aserbaitschanischen Armee ist dieses Mal massiv, sie will Fakten schaffen, SRF-Korrespondent Calum MacKenzie spricht von «ethnischen Säuberungen». Wer fliehen kann, flieht, die Autokolonnen sind lang (Foto). Goris ist die nächste Stadt und hat schon mehrere tausend Menschen aufgenommen, die Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung sei riesig, berichten westliche Medien.

Bislang konnte ich Marietta nicht erreichen. In den Gedanken schletzt es mich hin und her – zwischen der tragischen Situation dort und der saturierten Gesellschaft hier.

Foto 3: Marut Vanyan

Im Kern geht es um die «Wir»-Schweiz

Zuweilen ärgern sich viele Leute in diesem Land über einzelne Beiträge, Moderatoren oder Sendungen der SRG. Der individuelle Fokus blendet aus, welche Leistungen das öffentliche Medienhaus für alle Bevölkerungsgruppen in den vier Sprachregionen erbringt. Mit der Halbierungsinitiative kommt bereits der nächste Frontalangriff auf die SRG. Es geht um weit mehr als um die Finanzierung des Service public

Die Unterschriften für die Halbierungsinitiative sind also beisammen. Damit kann die libertäre Truppe um SVP-Nationalrat Thomas Matter und Noch-Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler schon wieder zum Halali auf die verhasste SRG blasen. Wohlan.

Die Schweiz kommt aus einer beispiellosen Krise, die unserer Gesellschaft sehr zugesetzt hat. Just in einer Zeit, die von Polarisierung und Desinformation geprägt ist, erfolgt der nächste Angriff auf die Medienvielfalt. Natürlich kann die SRG auch mit einer Medienabgabe von 200 Franken pro Haushaltung noch Programme gestalten. (Bis 2018 betrug sie übrigens noch 450 Franken, aktuell liegt sie bei 335 Franken, was einer Reduktion von 25 Prozent entspricht.)

Viele Programme würden bei einem Ja wegfallen – von den teuren Informations- und Hintergrundsendungen über Live-Sport bis zu Unterhaltungskisten, die viele Leute mögen. Nicht zu vergessen: Die SRG ist die grösste Kulturproduzentin des Landes. Nach einem Ja zur Halbierungsinitiative würde für Film-, Literatur- und Musikförderung nichts mehr übrigbleiben.

Klar, deswegen geht die Schweiz nicht unter. Aber eine Schweiz ohne Filme wie «Die göttliche Ordnung», ohne Serien wie «Tschugger» oder «Wilder», ohne Förderung der Literaturfestivals und ohne «Radio Swiss Pop» mit einem Anteil von 50 Prozent Schweizer Musik wäre eine markante Verarmung.

Damit sind wir sind beim entscheidenden Punkt angelangt.

Bei der Abstimmung über die Halbierungsinitiative geht es nicht nur um die Finanzierung des öffentlichen Medienhauses. Es geht im Kern um die Frage, ob sich die «Ich-Ich-Ich!»-Schweiz durchsetzt oder die «Wir»-Schweiz. Es geht also um Egoismus vs. Gemeinsinn.

Das gesamte Angebot der SRG kostet 90 Rappen pro Tag

Doris Dosenbach findet die Hintergrundsendungen von Radio SRF und einige Podcasts top, das Fernsehangebot hingegen hält sie für unterkomplex. Ihr Nachbar Hugo Hugentobler schaut sich mit Freude die Quiz- und Kochsendungen an, News und Dokumentationen interessieren ihn hingegen nicht. Dass sich seine Kinder auf Youtube, Instagram und Tiktok viele SRG-Inhalte reinziehen, kriegt er nicht mit.

Die Dosenbachs und Hugentoblers dieses Landes zeigen Gemeinsinn, wenn sie die Präferenzen der anderen nicht nur respektieren, sondern auch bezahlen, genauso wie Kinderlose die Sanierungen der Schulhäuser mitfinanzieren. Aktuell kostet das gesamte Angebot der SRG 90 Rappen pro Tag, rund 75 Prozent aller Firmen sind von der Medienabgabe befreit.

Beim Kampf gegen «No Billag 1» 2017/2018 war ich als Kampagnenleiter dabei. Es war das längste und intensivste «Battle», das ich in 20 Berufsjahren erlebt habe. Ich kann erahnen, was mit der Halbierungsinitiative auf uns zukommt, bei der es sich faktisch um eine «No Billag 2» handelt, denn: Ist die SRG erst einmal halbiert und kann kein Vollprogramm mehr bieten, verabschiedet sich auch die Masse. Mit dem dritten Frontalangriff wird die SRG dann vollends ausradiert. Das ist das Ziel der Matters und Biglers.

Was geschieht, wenn man die Medien den Kräften des Marktes überlässt, zeigen die USA, und es graut mir davor. Ein Präsident Donald Trump wurde nur möglich, weil er den grossen werbefinanzierten TV-Fernsehstationen hohe Einschaltquoten bescherte. Ich bin ein liberaler Geist, aber mir ist klar, dass der Markt in der kleinräumigen viersprachigen Schweiz nicht mehr funktioniert.

Innerhalb von 15 Jahren schmolz der Werbeumsatz auf einen Drittel

Die privaten Medien in der Schweiz erwirtschafteten 2007 mit Werbung 2,2 Milliarden Franken. Im letzten Jahr waren es noch 730 Millionen Franken. Innerhalb von 15 Jahren ist der Werbeumsatz also auf etwa einen Drittel geschmolzen. Nicht die SRG ist schuld daran, das Werbegeld fliesst zu den Tech-Giganten in Kalifornien, also zu Amazon, Google und Meta (Facebook & Co.). Diese Entwicklung ist irreversibel, mittelfristig lässt sich mit Journalismus kein Geld mehr verdienen.

Mit deutlich teureren Abonnements können die Schweizer Medienhäuser den Abfluss an Werbegeld nicht annährend kompensieren. Die Bereitschaft, für Online-Journalismus zu bezahlen, liegt aktuell bei 17 Prozent. Vor fünf Jahren betrug dieser Wert 13 Prozent. So viel zum «Medienmarkt» Schweiz. Angesichts dieser Entwicklung ist es hirnverbrannt, das öffentliche Medienhaus der Schweiz halbieren zu wollen.

Die Volksabstimmung zu «No Billag 2» wird 2026 oder 2027 stattfinden. Der Ausgang ist offen, weil die Forderung verführerisch klingt.

Seit eineinhalb Jahren bin ich zusammen mit der Bewegung Courage Civil daran, in Fronarbeit eine Allianz gegen die Halbierungsinitiative aufzubauen. Sie heisst Allianz Pro Medienvielfalt. Du kannst Teil davon werden. Das kostet nichts – ausser drei Minuten Lektüre und dem Hinterlassen deiner Daten. Hier lang: https://www.pro-medienvielfalt.ch/

«Fuck the planet» oder Ja stimmen, du entscheidest

In den letzten Tagen glaubte ich mehrmals, dass mich der Affe laust. So sagte in der letzten SRF-«Arena» Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (SVP), der Klimawandel habe auch Vorteile. «Zum Beispiel für den Sommertourismus in Graubünden.»

Wie bitte?

Ein Flugblatt eines zunächst anonymen Komitees «Rettung Werkplatz Schweiz» sorgte zuvor für viel Wirbel. In diesem Pamphlet steht, dass der Mensch keinen Einfluss auf die Erderwärmung habe. Weiter wird die Wissenschaft per se an den Pranger gestellt. Inzwischen ist bekannt, dass hinter diesem Komitee ein SVP-Mitglied aus Stäfa (ZH) steht. Der Vollversand an alle 4 Millionen Haushaltungen unseres Landes kostete rund 800’000 Franken.

Die Absicht hinter diesen faktenfreien Aussagen ist klar: Die Schweizerinnen und Schweizer sollen verunsichert werden. Wer am Nutzen des Klimaschutzgesetzes zweifelt, nimmt womöglich an der Abstimmung vom 18. Juni gar nicht teil oder sagt Nein.

Also zurück auf Feld eins. Klimaforscher Thomas Stocker, der seit Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, fasst in einfachen Worten zusammen, worum es geht:

«CO2 ist ein Treibhausgas. Der Anstieg von CO2 wird durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas sowie durch die Abholzung verursacht – ist also zu 100 Prozent menschgemacht. Millionen von Messungen zeigen die weltweite Erwärmung seit 1900. Jedes weitere Jahr mit Emissionen führt zu einer weiteren globalen Erwärmung mit lokalen Auswirkungen. Gehen die Emissionen nicht zurück, führt das zu einer globalen Erwärmung um 4 bis 5 Grad, in der Schweiz um 7 bis 8 Grad.»

(Stockers Aussage wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.)

Die meisten Staaten entschieden 2015 mit dem Klimaabkommen von Paris, den Ausstoss von CO2 bis 2050 auf Netto-Null senken zu wollen. So steigt die Temperatur global um weniger als 2 Grad.

Die Abstimmungskampagne des Nein-Lagers dreht sich um alles mögliche, vor allem angeblich horrende Kosten. Doch darüber stimmen wir am 18. Juni gar nicht ab. Vielmehr geht es beim Klimaschutzgesetz um vier Punkte:

– Es definiert die Ziele für den schrittweisen Ausstieg aus der Abhängigkeit von Erdöl und Gas bis 2050;

– es schafft Planungssicherheit, was für die Wirtschaft zentral ist;

– es unterstützt Hauseigentümer, wenn sie ihre Öl- oder Gasheizungen ersetzen. Dasselbe gilt für Besitzerinnen von Elektroheizungen, die auf klimafreundliche Systeme umsteigen;

– Innovationen werden gefördert.

Das Gesetz beinhaltet keine Verbote und keine neuen Abgaben oder Steuern. Das anerkennt selbst Albert Rösti, bis Ende letzten Jahres noch Nationalrat und Mitglied des «Stromfresser»-Referendumskomitees.

Nach einem Ja werden in den nächsten zehn Jahren 3,2 Milliarden Franken an Subventionen zur Verfügung gestellt. Klar, das ist viel Geld, doch ein Vergleich relativiert: Der Landwirtschaftssektor wird seit Langem mit etwa 3,5 Milliarden Franken pro Jahr subventioniert, wovon Direktzahlungen 2,8 Milliarden ausmachen.

Klar, der Umbau der Energieversorgung zu Netto-Null geht ins grosse Tuch. Klar, Lenkungsabgaben wären eleganter gewesen, aber davor fürchtete sich das Parlament.

Drei Punkte, die den Faktor «Geld» in einen grösseren Kontext stellen:

– Man muss unterscheiden zwischen Investitionen und Kosten;

– bislang fliessen jedes Jahr rund 8 Milliarden Franken für Erdöl und Gas an Saudis und Schurken. In der Schweiz investiert, schafft das viele neue zukunftsträchtige Arbeitsplätze;

– Die Folgekosten des Klimawandels würden horrend hoch, gerade in der gebirgigen Schweiz.

Natürlich rettet die Schweiz das Weltklima nicht mit einem Ja am 18. Juni. Aber sie macht einen wichtigen Schritt, damit der Ausstoss von Treibhausgas reduziert wird, so wie das in mehr als 190 anderen Ländern auch geschieht.

Zur breiten Ja-Allianz gehören fast alle Parteien, die meisten Wirtschaftsverbände, namentlich die Industrie, zahllose NGO sowie die Bäuerinnen und Bauern. Gerade letztere wissen, welche Auswirkungen deutlich höhere Temperaturen für Natur und Umwelt haben.

Es gibt weiterhin Leute, die den Klimawandel leugnen oder als Pipifax bezeichnen, und es gibt solche, die mit einer «Fuck the planet»-Einstellung auffallen. Das muss eine liberale Gesellschaft ertragen. Ich schätze, dass bloss 10 bis höchstens 20 Prozent der Bevölkerung eigenverantwortlich handelt. Dass dieser Wert so tief liegt, lässt mich meine Backenzähne zermalmen. Ich verstehe es nicht!

Alarmismus und apokalyptische Erzählungen halte ich für kontraproduktiv. Gleichzeitig mögen viele Leute das Wort Klimawandel nicht mehr hören. Ihnen sei in Erinnerung gerufen, dass der Klimawandel keine Sommergrippe ist. Man kann ihn verdrängen, verharmlosen oder verfluchen – das Problem bleibt.

Foto: dpa
Sujet: Bewegung Courage Civil 

Mein erster Rausch – wegen Tina

Als Teenager hatte ich Pickel auf der Stirne, Flausen im Kopf, Bäckerhosen im 7/8-Schnitt und eine grosse Liebe: Musik. Das Geld, das ich als Zeitungsverträger verdiente, reinvestierte ich zu praktisch 100 Prozent in Langspielplatten. (Für Leute der Generation Z: Das sind Kuhfladen-grosse schwarze flache Scheiben, die beim Abspielen x-fach besser klingen als dieselben Songs über Spotify & Co.) Samstag für Samstag pilgerte ich nach Brugg zu «Fairplay Records», und Co-Inhaber René Wermelinger (selig) wusste genau, welche «heissen Scheiben» er mir vorspielen musste.

Er verdiente gutes Geld mit mir, und ich habe dank ihm eine grandiose Sammlung. Nie würde ich mich auch nur von einer dieser Platten trennen!

Als mir René an einem Frühlingstag im Jahr 1984 «Private Dancer» von Tina Turner auflegt, kippe ich nicht vom Hocker. Erst bei «I might have been queen» bin ich hin und weg. Begeistert sage ich: «Einpacken!», 19 Franken wechseln den Besitzer und ich radle heimwärts. In meinem Zimmer tanzt die Nadel über die LP, und diese wird beim Hören jedes Mal besser.

Erhebungen kommen immer wieder zum selben Schluss: Die Musik, die uns im Alter zwischen 15 und 18 Jahren gefiel, lässt uns ein ganzes Leben lang nicht mehr los. Sie prägt.

Ein knappes Jahr später ist Tina Turner auf Europatournee. Ich fahre mit viel Bargeld in die ferne Stadt, um im Vorverkauf Tickets zu ergattern. Das Internet gab es damals noch nicht, und ich erinnere mich, wie ich einen kleinen Stapel glänzendes Papier wie eine Trophäe nach Hause brachte: 15 Eintrittskarten. (Eine kostete damals 24 Franken.)

Am 8. März 1985 fährt unsere bunt zusammengewürfelte Truppe mit dem Zug nach Oerlikon, und wir drücken uns mit 10’000 anderen Fans vorfreudig ins Hallenstadion. Um acht Uhr geht das Licht aus, Bryan Adams stürmt auf die Bühne und macht vom ersten Moment an klar, dass er richtig abdrücken will. Das Publikum ist flugs auf den Beinen und lässt sich anstecken, die Party geht los. Wer lange Haare hat, lässt sie durch die Luft wirbeln.

So viel Charisma, so viel Energie

Kaum ist Tina Turner auf der Bühne, geraten die Fans im ausverkauften Stadion erst recht aus dem Häuschen. Die Band ist stark, das Set ausgezeichnet, die Energie, die die Sängerin über die ganze Show mobilisieren kann, ist enorm. Tina zieht uns in ihren Bann mit ihrem Charisma und ihrer Stimme, die mal roh, mal soulig klingt. Am besten finde ich ihre Covers von Al Green, CCR, Iggy Pop oder den Beatles. Sie gibt ihnen ihre eigene Prägung. Was den Unterschied zu fast allen anderen Künstlerinnen ausmacht, ist ihre Präsenz.

Ich hüpfe während des ganzen Konzerts im Takt mit, reisse immer wieder die Arme in die Höhe und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben komplett berauscht, und das ohne einen Schluck Alkohol getrunken zu haben. «Rock is a drug» wussten Spliff schon 1980 in ihrer grandiosen «The Spliff Radio Show».

Aufgekratzt taumeln wir durch die Strassen zum Bahnhof und singen die Songs nochmals mit heiserer Stimme. Das klang zweifellos ziemlich falsch, aber: in dieser Nacht gehörte uns die ganze Welt.

 

PS:
Gestern wurde Tina Turner im Alter von 83 Jahren abberufen. Ich zündete eine Kerze an und hörte den ganzen Abend die Songs ihrer langen Karriere. Das beste Album ist für mich «Live in Paris» aus dem Jahr 1971, als ihr damaliger Mann, Ike Turner, noch mitgewirkt hatte. Er war zwar ein übler Kerl, wie wir seit der Biografie «I, Tina» (1986) wissen, aber die richtig guten Songs hat er geschrieben.

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