Die Terror-Anschläge von Paris und Beirut haben mich mit 24 Stunden Verzögerung unvermittelt zu Boden geworfen, seit Samstagabend schmerzt mein Körper. Ich bin sprachlos, also schreibe ich die Gedanken nieder, die mir durch den Kopf schiessen. Sie müssen raus, und nein, das wird für einmal keine luftig-leichte Geschichte.
Weit nach Mitternacht, der Bundesplatz in Bern ist leer und verlassen, Hunderte von Kerzen flackern im Dunkeln, viele davon schwächlich, irgendwo mache ich die Form eines Herzens aus – Zeugen der Solidarität. Stille. Das Bild, das sich hier präsentiert, beruhigt. Trotzdem hat es etwas Gespenstiges.
Unvermittelt rücken andere Bilder in den Vordergrund: Vor elf Jahren wurde dieser Platz eingeweiht, an einem herrlich warmen Abend im August wars. Nach den Konzerten installierte sich ein DJ auf der Bühne und legte los. Hunderte von Menschen feierten bis tief in die Nacht hinein. Ein Silberfuchs, etwas steif in den Hüften, tanzte neben Teenagern, Asiatinnen auf der Durchreise neben einem stadtbekannten SVP-Mitglied, Korpulentere neben Schlaksigen, Leute mit teuren Markenkleidern neben solchen mit ausgetragenen Klamotten. Das Set war grandios, die Stimmung ausgelassen, in den Gesichtern widerspiegelte sich Fröhlichkeit.
Wir stehen vor einem neuen Krieg gegen „das Böse“. Der französische Präsident François Hollande braucht martialische Worte, er kann gar nicht anders, sonst ist er politisch erledigt. Die Schläge gegen Terrorzellen in Syrien, Jemen, Irak und anderswo werden Unsummen verschlingen. Bei Lichte betrachtet kann sich Frankreich diesen Krieg gar nicht leisten, schlingert es doch wirtschaftlich schon seit vielen Jahren gefährlich. Und wenn schon: Anderswo wäre dieses Geld besser investiert. In den Banlieus der französischen Grossstädte hocken zahllose Junge, es sind Kinder und Grosskinder von Migranten aus dem Maghreb und anderen arabischen Ländern, ohne Job, ohne Perspektiven. Ihre Tage sind unendlich lang und langweilig. Das bildet den Nährboden für ihre Radikalisierung. Hunderte von ihnen wurden Dschihadisten, kämpften im Irak und in Syrien und leben nun wieder in Frankreich oder Brüssel.
Die Vergeltungsschläge werden das Gegenteil von dem bewirken, was die hilflosen Politiker versprechen. Die jüngste Geschichte zeigt es in gnadenloser Klarheit: Die Operationen gegen die „Achse des Bösen“, welche die USA und ihre Verbündeten seit 9/11 führen, haben den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert, der Bevölkerung im Irak geht es heute schlechter als zu Saddam Husseins Zeiten, nach dessen Sturz wuchs wegen des Machtvakuums die Terrormiliz des sogenannten „Islamischen Staats“ heran, auch Afghanistan ist in einen hoffnungslosen Strudel geraten. Laut Kollegen, die dort arbeiteten, haben die „Internationals“ trotz starker Präsenz und zig Milliarden nichts zustande gebracht. Kein Wunder, sind viele Menschen nur noch von einem Gedanken beseelt: Sie wollen weg, koste es, was es wolle. Viele ziehen Richtung Europa los. Seit ein Dschihadist auf der Balkanroute geortet wurde, stehen alle Flüchtlinge unter dem Generalverdacht, Terroristen zu sein. Scharfmacher vergiften das Klima, der Hass gedeiht, die Auftragsbücher der Rüstungskonzerne füllen sich, die Gewaltspirale dreht sich stetig, Parteien, die Probleme bewirtschaften statt angehen, werden weiter Zulauf haben.
Wenn nachts die Banden und die Angst regieren
Mehr als ein Jahr lang bereiste ich Lateinamerika, eine Phase, die mich reich mit Begegnungen und Erfahrungen beschenkte. Viele Städte sind dort nachts wie leergefegt, wer sich dann bewegen muss, nimmt ein Taxi. Ich erinnere mich an Santa Ana in El Salvador: Beim Einchecken in einer Posada erklärte mit der Besitzer, ein Hüne von einem Mann, was Sache ist: „Nach 20 Uhr öffne ich die Eingangstüre nicht mehr, wenn du zu spät bist, kannst du rufen und klopfen wie du willst, es ist mir egal. Santa Ana ist tagsüber eine hübsche Stadt, nachts regieren die Banden in den Strassen. Wer dann noch draussen ist, riskiert sein Leben.“
Ich entgegnete: „Und weshalb kämpft ihr nicht dagegen an? Macht Demonstrationen, immer am selben Wochentag, abends, dann, wenn es gefährlich wird. Wenn Hunderte von Menschen durch die Strassen ziehen, sind sie sicher und ziehen noch mehr Leute an. Das wäre ein starkes Signal und ihr lockert schliesslich sogar das Korsett, abends festzusitzen.“
Der Hüne blickte mich lange schweigend an. „Gringo“, sagte er schliesslich, „du vergisst etwas: Wir haben Angst, grosse Angst.“
In vielen Städten Lateinamerikas konnte sich die Angst festsetzen. Das darf in Europa nicht passieren, wir müssen sie so schnell als möglich überwinden, die Normalität zurückgewinnen, an Konzerte und in Fussballstadien gehen, tanzen. „We are not afraid.“ Wir sind frei und leben in aufgeklärten Ländern.
Den Brandstiftern unter uns treten wir anständig, aber resolut entgegen. Die Solidaritätsbekundungen der letzten 48 Stunden waren der Anfang. Und so soll es weitergehen: Dabei ist unser Tun geprägt von Respekt, Toleranz und Menschlichkeit. Jetzt erst recht. Mit Gutmenschentum hat das nichts zu tun.
So, jetzt geht es mir wieder besser.
Weitere Texte zum Thema:
– Scharfmacher predigen noch mehr Gewalt (Heiner Flassbeck, Watson, 17.11.2015)
– Der Mann, der in Paris seine Frau verlor (Martina Meister, Tages-Anzeiger, 10.05.2016)
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