Carlito und Carmela in der Kartonkiste

Auf der Passhöhe mache ich Rast. In den Bergen Bulgariens gibt es eine Vielzahl von Hütten aus Holz, die mit robusten Tischen, Bänken und einer Feuerstelle ausgerüstet sind. Die meisten sind sauber und fliessendes Wasser haben sie auch. Hier können Touristinnen und Lastwagenfahrer picknicken oder eine Siesta machen.

Es ist kühl geworden im Wald, und zum ersten Mal auf dieser Tour musste ich die Ärmlinge anziehen. Nachdem ich «Yellow Jeff» parkiert habe, schlüpfe ich in eine Trainerjacke und lege mein Mittagessen auf einer Serviette aus. Es gibt dunkles Brot, Wurst, eine Banane, Aprikosen und Pflaumen.

Ich habe Hunger und lange zu, während die mächtigen Baumkronen sich leise im Wind wiegen. Plötzlich höre ich ein leises Rascheln aus der Ecke. Dort steht eine Kartonkiste mit der Aufschrift «Chio». Sie war vermutlich improvisiert für Abfall gedacht gewesen, bloss liegt dieser frei verstreut um die Kiste herum.

Da raschelt es wieder aus der Kiste, und ich höre ein Geräusch, das ich nicht zuordnen kann. Ein kleines spitzes Ohr mit schwarzen Haaren kommt zum Vorschein.

So beginnen Horrorfilme.

Ich zwicke mich kräftig in den Arm. «Autsch!» Das haarige Ohr ist immer noch dort.

Langsam stehe ich auf und nähere mich vorsichtig der Kiste. Da schnellt ein Katzenkopf aus der Kiste und das Tier faucht bedrohlich. Ich erschrecke und weiche zurück. Die Katze hat einen schwarzen Kopf und eine weisse Schnauze. Sie lässt keine Zweifel aufkommen, wo die Grenze für Fremde ist. Ich bleibe stehen, bewege mich nicht und atme flach.

Da taucht ein zweiter Katzenkopf auf, dann ein dritter. Die Neugierde der beiden Kätzchen war grösser, sie wollen auch sehen, was ihre Mutter enerviert. Nach ein paar Sekunden verlieren sie das Interesse und verknäulen sich wieder ineinander.

Ich setze mich und esse weiter. Die Katzenmutter beginnt, mit ihren Jungen zu spielen. Dazwischen leckt sie sie mit ihrer rauen Zunge fürsorglich ab. Irgendeinmal hat sie genug von den Kleinen, die nicht müde werden, sich zu balgen, und richtet sich auf. Mit einem eleganten Satz lässt sie die Kartonkiste hinter sich. Dann dehnt und streckt sie sich ausgiebig. Grazil und ohne Scheu läuft sie an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten und erkundet die nähere Umgebung. Ganz offensichtlich geht sie davon aus, dass ich keine Gefahr mehr für ihre Jungen darstelle.

Kaum ist die Katzenmutter verschwunden, setze ich mich neben die Kartonkiste und kraule die Kleinen. Beide sind gut genährt und unendlich knuffig. Ich taufe sie Carlito und Carmela.

Carlito ist schwarz, nur Schnauze und Halspartie sind weiss. Er versucht immer wieder, auf die Hinterbeine zu stehen, verliert aber das Gleichgewicht und purzelt auf die Seite. Carmela hat ein weisses Fell mit einigen schwarzen Flecken. Sie findet es lustiger, auf ihren Bruder zu klettern und ihm in den Rücken zu beissen. Meine Hände, die abwechselnd mit den Kätzchen spielen und sie dann wieder streicheln, finden sie als Abwechslung ganz okay.

Was hier vor ein paar Stunden oder Tagen passiert ist, liegt auf der Hand: In beide Richtungen der Passstrasse gibt es auf 25 Kilometer keine Häuser, so weit weg entfernt sich keine Katzenmutter zum Werfen. Das Trio wurde ausgesetzt.

Es wiederholt sich vorab zu Beginn der Sommerferien: Haustiere werden den Menschen überdrüssig und schliesslich auf Autobahnraststätten oder im Wald kaltherzig ausgesetzt. Laut dem Schweizer Tierschutz werden jedes Jahr etwa 20’000 wieder aufgegriffen und in Tierheime oder Aufnahmestationen gebracht. Wie viele Tiere vorher umkommen oder verwildern, ist nicht bekannt.

PS:
– Natürlich dachte ich darüber nach, die Katzenfamilie bis ins nächste Dorf, zu einer Bauernfamilie, zu bringen. In einer Sacoche hätte ich genug Platz schaffen können. Die Kleinen hätte ich problemlos einpacken können, die Mutter hingegen hätte sich vermutlich heftig gewehrt.

– Die Raststätte, die ich hier zeige, ist nicht identisch mit derjenigen des «Tatorts», zwischen den beiden liegen etwa zehn Kilometer.

– Auf Instagram folgte ich während Jahren einem Bikepacker aus Belgien auf seiner Weltreise. Unterwegs war ein Kaninchen so zutraulich geworden, dass er es schliesslich mitnahm. Das Duo wurde unzertrennlich und das Kaninchen überall, wo der Radler stoppte, mit viel Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten eingedeckt.

Vergesst Netflix, das Dorfkino Moglicë ist besser

Velorennfahrerinnen und Gravelbiker hätten ihre helle Freude an dieser Stecke: Die Strasse ist in einem ausgezeichneten Zustand, das Gelände kupiert, die Steigungen sind knackig. Einmal sind es 50, dann 100 oder noch mehr Höhemeter, die man mit Schwung bewältigen kann. Die Verkehrsingenieure haben oft 10 bis 30 Meter tiefe Schluchten durch die Felsen bauen lassen. «Es fägt», würden richtige Berner sagen.

Für mich ist eine Mühsal: «Jellow Jeff» allein ist 24 Kilogramm schwer, dazu kommt das Gepäck und mein Eigengewicht. Meistens kurble ich im ersten Gang bergauf, komme nur langsam voran und muss keuchen. Der innere Schweinehund hockt auf meiner linken Schulter und flüstert: «Hey, weshalb quälst du dich?» Ich konzentriere mich auf die Berge Albaniens und den riesigen Stausee, der nicht enden will.

Das Wasserkraftwerk, das die norwegische Firma Statkraft vor zwei Jahren ganz in der Nähe fertigstellte, produziert pro Jahr 450 Gigawattstunden. Albaniens Premierminister Edi Rama streicht die Versorgung mit erneuerbaren Energien hervor, doch die vielen Projekte für Wasserkraftwerke im Westbalkan stossen auch auf massive Kritik

Doch zurück zu meiner Etappe: Das Thermometer zeigt 36 Grad, auf der App steht irgendwo diskret in gelber Schrift: «Gefühlt 41 Grad». «Ihr Wetterfrösche habt ja keine Ahnung!», knurre ich halblaut als ich wieder in einer Schlucht bergauf strample. Die Sonne brennt von oben, von unten und den Felswänden her reflektiert die Wärme. So muss sich das Güggeli im Backofen fühlen.

Am Rand eines Städtchens entdecke ich eine Beiz unter alten Bäumen, direkt neben einem rauschenden Bach, der Wind kühlt. Das Ambiente gefällt mir, und ich lasse mich auf einen Stuhl fallen. Es ist nach 14 Uhr. Ich bin der einzige Gast und die Gerantin, schüchtern wie sie anfänglich ist, lässt ihren etwa zehnjährigen Sohn für sie übersetzen. Dann verschwindet sie in der Küche und ich höre, wie ein Messer routiniert und in hohem Tempo auf das Schneidebrett trifft. Fünfzehn Minuten später habe ich einen griechischen Salat (erstklassig) und eine grosse Portion Spaghetti mit Tomatensause vor mir. Dazu eine grosse Flasche Wasser und ein Süssgetränk.

Ich bin satt und zufrieden, der Kampf im Backofen ist eine Randnotiz. Im Barbershop neben der Beiz gönne ich mir eine Nassrasur und kriege am Schluss einen kräftigen Spritzer Eau de Cologne auf Backen und Hals. Ich muss grinsen: Oben riecht es gut, von den Schultern abwärts kleben die verschwitzten Kleider an meinem Leib. Ich radle los und geniesse es, ab und zu eine Nase voll des Kölnisch Wassers einzuatmen. Zehn Minuten später hat es sich verflüchtigt.

Die Schatten sind länger geworden, ich kurble in gemächlichem Tempo durch die Landschaften und geniesse das Panorama. Kein Motorengeräusch zerreisst die Stille. Die Bauern werken auf den Feldern, die Schäfer winken, wenn ich an ihnen vorbeifahre. Unterwegs pflücke ich wilde Mirabellen und stopfe sie in meinen Mund, was jedes Mal wie ein Zuckerschub wirkt.

Die grösste Hitze ist gebrochen, als ich in einen Canyon einbiege. Rechts von mir gurgelt ein Bach talwärts, die Felsen sind zuweilen rot, es sieht aus wie im Wilden Westen.

Es ist Abend, als ich in Moglicë vom Velo steige. Auf dem Dorfplatz spielen die Kinder, und natürlich sind sie sofort neugierig, wer dieser Fremde mit dem riesigen gelben Göppel ist. Den vorwitzigsten Buben, vielleicht sechs Jahre alt, schwinge ich auf den Sattel, und er findet das nach ein paar Sekunden des unsicheren Balancierens ziemlich cool. Das Eis ist gebrochen, jetzt wollen die anderen auch.

Auf einem Mäuerchen sitzend, haben fünf Männer das unbeschwerte Treiben beobachtet. Ich winke ihnen zu, es den Kindern gleichzutun und eine Runde zu fahren. Sie schütteln den Kopf, also probiere ich es mit einem Schlüsselwort: «Birra?» Fünf Köpfe nicken. Im Tante-Emma-Laden nebenan kaufe ich sechs Dosen Bier. Beim Öffnen erklingt sechsmal ein metallenes Knacken, und wir prosten einander zu. Herrlich erfrischend – in der Bergluft und nach einem solchen Tag schmeckt es noch besser.

Ich setze mich vor die Männer auf den Boden. Sie schauen mich an, ich schaue sie an, und es ist nicht komisch. Es sind einfache Menschen, die in diesem Bergdorf leben. Sie halten Kühe, Schafe und Ziegen, und beim Hinfahren habe ich Kartoffeläcker gesehen. Wie ich nach einer Nacht im Zelt am nächsten Morgen feststellen werde, sind die Erwachsenen schon in der sechsten Stunde auf den Beinen. Sie nutzen die angenehmen Temperaturen, um zu arbeiten.

Ich beherrsche sechs Wörter Albanisch, meine neuen Kumpel können, wie sich herausstellt, «good» und «Where do you come from?» Das ist eine schmale Basis, aber wir finden einen Ausweg. Auf dem staubigen Boden zeichne ich den Weg, den ich mit dem Fahrrad hinter mir habe, auf, und nenne die Länder. Das interessiert sie. Pause – dann hat einer der Männer eine Idee: Wir sollen das Alter der anderen erraten.

Alle machen mit und schreiben jeweils verdeckt eine Zahl in den Staub, welches Alter wir der Person, die gerade im Zentrum steht, zuschreiben. So simpel dieses Spiel auch ist, wir machen eine theatralische Nummer daraus und amüsieren uns köstlich.

Urplötzlich wird es laut: Ein Esel trabt über den Dorfplatz. Er schleift ein sicher 20 Meter langes Seil hinter sich her. Ein Mann in Gummistiefeln rennt ihm schreiend nach, aber dieser hat offenbar keine Lust, eingefangen zu werden, vielmehr spielt er «Fangis» mit seinem Besitzer. Die Komik ist nicht zu übertreffen: Kinder, Männer und der Radfahrer aus der Schweiz müssen lachen. Leute, vergesst Netflix, das Dorfkino Moglicë ist besser!

 

PS:
Mein Wortschatz hat sich an jenem Abend um zwei Wörter vergrössert: Ich weiss jetzt, dass Gëzuar Prost heisst, und Gomar ist der Esel. Bei der nächstbesten Gelegenheit passiert es mir womöglich, dass ich die beiden Begriffe verkehrt herum anwende. Das gibt dann Stoff für ein neues Posting.

Midsommar in Montenegro

Die Kleinstädte an der Adriaküste Montenegros sind historisch und charmant. Bar ist die Ausnahme, hat dafür geostrategisch eine zentrale Bedeutung. Während des Kalten Kriegs nutzte die Sowjetunion den Hafen von Bar mit ihren Schiffen und hatte so Zugang zum Mittelmeer.

Während der Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 bis 1995 zerfiel, bildeten sich an seiner Stelle eigenständige Länder. Montenegro (übersetzt: Schwarzer Berg) musste sich zuerst schrittweise von der Schwesterrepublik Serbien und dem Regime von Slobodan Milošević loslösen, bevor es 2006 die Unabhängigkeit erlangte; das Volk sprach sich mit 55 Prozent Ja-Stimmen dafür aus.

2017 folgte ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Landes, das dreimal kleiner ist als die Schweiz und 14 Mal weniger Einwohner zählt: Montenegro wurde als 29. Mitglied von der Nato aufgenommen. Wer die Europakarte betrachtet, merkt schnell, weshalb ihr die Integration Montenegros so wichtig war. Moskau reagierte verärgert.

Bar hat aus einem zweiten Grund eine strategische Bedeutung: Von hier aus führt eine 476 Kilometer lange Eisenbahnlinie bis nach Belgrad. Die Strecke umfasst rund 250 Tunnel und ebenso viele Brücken. Bis zur Wasserscheide in den Bergen schraubt sie sich auf 1000 Meter über Meer und gilt als eine der attraktivsten Bahnlinien Europas. Sie war das teuerste Infrastrukturprojekt Jugoslawiens und ein Prestigeobjekt des Langzeitdiktators Josip Tito. Nach 25 Jahren Arbeit wurde es 1976 mit einem grossen Volksfest eröffnet.

Als Eisenbahnromantiker wollte ich diese Strecke natürlich kennenlernen. Das machte ich vor Wochenfrist – bis zur montenegrinisch-serbischen Grenze, abends fuhr ich zurück, «Jellow Jeff» und meine müden Müskeli kriegten einen Tag Pause.

Die Fahrt durch die Schluchten, Berge und Wälder ist spektakulär, die Panoramen sind atemberaubend, die Fensterscheiben dreckig. Die meisten Fotos, die ich machte, taugen deshalb nichts. Mehr als ein Ersatz ist dieses Youtube-Video.

Auf dem Rückweg von Bijelo Polje nach Bar bleibt unser Zug mitten in den Bergen plötzlich stehen. Die Passagierinnen gucken sich verdutzt an und dann passiert – nichts. Irgendeinmal wackelt der Zugbegleiter durch die Waggons und erklärt knapp, dass die Lokomotive kaputt sei und ausgewechselt werden müsse. Ein «Sorry» hören wir nicht. Die Türen gehen auf und wir vertreten uns draussen die Füsse.

Es ist immer so: Wenn im Bahnverkehr nichts mehr geht, beginnen wildfremde Leute miteinander zu reden. Ich komme mit drei jungen Leuten aus Schweden ins Gespräch. Sie sind lebenshungrig, witzig und voller Energie. Seit Kindsbeinen kennen sie sich, studieren inzwischen in Lund und bereisen Südosteuropa mit dem Interrail – zum Teil zu dritt, zum Teil allein.

Aus dem Nichts ist eine dunkle Wolkenwand aufgezogen und schon geht ein Platzregen darnieder. Wir stürmen in die Waggons, doch es als nur noch nieselt, sind wir schon wieder draussen und geniessen die warmen Regentropfen auf unserer Haut. Es riecht gut. Ein Paar beginnt zu tanzen.

Inzwischen sind zwei Stunden vergangen, und die Ersatzlok hätte schon lange hier sein sollen. «Never mind», unsere Laune und die Themen bleiben gut.

Ich weise die Schweden darauf hin, dass heute doch «Midsommar», das grosse Fest der Sommersonnenwende, gefeiert werde. Das Stichwort reicht und das Trio wieselt davon. Zwei Minuten später stehen sie wieder auf den Geleisen mit Snacks und einer Flasche Rotwein. Weil wir keine Gläser haben, kommt mein Sackmesser zu Einsatz. Wir zerschneiden ein paar Pet-Flaschen, was als Ersatz allemal taugt – und überhaupt: Wein ist Wein. «Skål!»

Irgendeinmal kommt die Ersatzlok doch noch. Wir ruckeln durch die Dunkelheit und kommen tief in der Nacht in Bar an.