Mit Mathe und Pasta auf den Stelvio

Das Hochkurbeln am Passo dello Stelvio ist zunächst simple Mathematik: Nach einer Haarnadelkurve hast du 1/48 hinter dir, nach zwei bereits 1/24, nach drei 1/16. Kurz und gut: Die Zahlen verkleinern sich also flott. Deutlich weniger flott war gestern das Tempo beim Aufstieg von Prad her.

Egal, das Rechnen motivierte mich bis zur Kurve Nr. 25 – dann versagten meine Fähigkeiten und ich geriet aus dem Tritt. (25/48 sind nicht greifbar, mehr als die Hälfte wiederum zu profan!) Die Passhöhe war zwar bereits in Sicht, aber noch weit, weit, verdammt weit oben. Es fehlten noch etwa 900 Höhenmeter. Also musste eine neue Ablenkungsübung her.

Ich erfand neue Pastasorten, konkreter: die Namen. Das passt, ich bin ja in Italien. Ein paar Beispiele: Papardelle mixtura tutti frutti, Tre colori per i championi della strada, Suegrone naturale con arome di Parma, Reggaetone giamaicano virtusoso, usw.

Alle Namen probierte ich mit kräftiger Stimme aus. So wurde immer sofort klar, ob sie rund klingen oder noch geschliffen werden mussten. Kurz: Ich redete fast die ganze Zeit vor mich hin, was viele Radfahrer, die mich überholten, zu irritieren schien. Auf alle Fälle guckten sie mich komisch an. «Was halluziniert der am Berg – komplett unterzuckert oder einfach wirr im Kopf?»

Mich kratzte das nicht die Bohne, der Zweck heiligt die Mittel – eco!

Irgendeinmal kam ich auf der Passhöhe an, geschafft, happy und hungrig. Nach dem obligaten Selfie gönnte ich mir Currywurst mit Pommes. Einmal am Tag sollte man auf Velotouren ja gesund essen.

P.S. Den Trick mit den Pastasorten wende ich wieder an, denn der nächste Pass kommt bald, stuzzi cadenti!

Der Flirt im Shopville

 


Gleis 31. Der Zeiger der Bahnhofsuhr hüpft auf sieben Uhr dreissig.
Hunderte von Pendlerinnen und Pendlern quellen aus dem überfüllten Intercity auf das Perron. Dann hasten sie davon, den Blick auf den Boden geheftet. Die Gesichter sind ausdruckslos, der Beton kalt, das Licht der Lampen grell. Die Atmosphäre ist steril wie in einem Chemielabor, ein eisiger Wind bläst, der Novemberblues potenziert sich – willkommen im Untergrund des Bahnhofs Zürich. Gegen 450’000 Leute eilen hier täglich durch die endlosen Gänge, unterwegs von A nach B.

Ich lasse mich von der Menge mittreiben. In einem Take-away hantiert ein junger Mann geschäftig herum, von anderswo wimmert Gary Moores traurige Gitarre. Das Shopville ist charmefrei.

Plötzlich tritt mir aus dem Nichts jemand in den Weg, ich stoppe abrupt. Vor mir steht eine vielleicht 40-jährige Frau, halblange blonde Haare, dezent geschminkt, Business-Look. Bürokollege Suppino hätte ihr sofort das passende Adjektiv verpasst: apart.

Es ist sieben Uhr zweiunddreissig und mein Hirn beginnt zu rattern. Will die mir eine Versicherung aufschwatzen? Mich bekehren? Auf der Stelle heiraten?

Die Blondine beginnt zu sprechen. In akzentfreiem Züridütsch sagt sie: «Grüezi, Si, chönnd Si mir sägä, wo d Bahnhofstrass isch?»

Ich zupfe an meiner Nase, gucke wohl ziemlich überrascht und verbeisse den dümmlichen Kommentar, der sich sofort aufgedrängt hat. Wieso fragt eine Zürcherin ausgerechnet mich, einen Berner mit Aargauer Wurzeln, wo die Bahnhofstrasse ist? Wie plump ist das denn, denke ich. Wenn die Dame nach dem Moods, dem Travel Bookshop im Niederdorf oder dem Bernhard-Theater gefragt hätte, wäre ich vermutlich schwach geworden und hätte ihr meine Handynummer gegeben.

Stattdessen durchzuckt mich ein fieser Gedanke: Ich will diese Episode auskosten. Bevor ich meinen Mund öffne, hole ich tief Luft und beginne dann, langsam zu sprechen. Richtig langsam. Es ist nicht einfach angelerntes Bärndütsch, nein, es ist Bärndütsch à la «Flügzüg», dem famosen Komikerduo, das die Berner Langsamkeit beim Sprechen herrlich zelebriert und verkompliziert.

«Itz göht Dir eifach hie d’Stägä ufä u när immer grediuus. Scho öppe zwöihundert Meter immer grediuus, gäuit, u am Ändi vom Gleis, auso dert, wo aui Gleis ände, bieget Dir nach rächts ab bis zur Routräppe.»

Meine Lungen sind leer, ich atme langsam und geräuschvoll ein. Die Frau vor mir guckt mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Irritation an. Meine Zunge fährt im Johann-Schneider-Ammann-Tempo über die Lippen, dann fahre ich fort: «Uf dr Routräppe, auso eigentlich mit dr Routräppe zäme, gäuit, fahret Dir i ds erste Ungergschoss. We d’Routräppe u Dir unge syt, auso eigentlich Dir beide zäme, göht Dir wider eleini grediuus, auso ohni Routräppe, bis es nümme wyter grediuus geit, und nächär links. Dert hets ä Stägä u diä göht Dir ufä. We Dir a dr früsche Luft obe acho syt, syt Dir am richtige Ort, a dr Bahnhofstrass.»

Der Gesichtsausdruck der Zürcherin hat sich inzwischen komplett verändert. Sie guckt mich entgeistert an. Hastig murmelt sie «Danke», macht auf hohen Absätzen kehrt und weg ist sie. Es ist sieben Uhr fünfunddreissig, und ich habe mich noch nie bernischer gefühlt als gerade jetzt. «Yesss!» Meine linke Faust fährt geballt in die Höhe, wie alben bei den Schüttelern, wenn sie ein Tor erzielt haben. Im Schaufenster kontrolliere ich, ob die Pose cool aussieht.

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Disclaimer: Was ich hier schildere, erlebte ich vor genau zwei Jahren und hielt es damals in einem Facebook-Posting fest. Gestern erinnerte mich Facebook daran, und ich musste schmunzeln. In Zeiten der Pandemie ist flirten deutlich anspruchsvoller geworden.

Diese Kurzgeschichte schaffte es aber zwischen zwei Buchdeckel, zusammen mit 23 anderen Geschichten von 23 anderen Autorinnen und Autoren; jede wurde wunderbar illustriert von «Lopetz». (Ein animiertes Beispiel finden Sie nach dem Werbeblock ganz unten. Es zeigt im Zeitraffer, wie eine Illustration entsteht.) Das schlanke schöne Buch heisst «dazwischen. Unterwegs mit 24 Pendlergeschichten». Sie können es im Handel bestellen oder mit einer simplen E-Mail an info@border-crossing.ch – unter zeitgleicher Überweisung von CHF 28.00 pro Exemplar an folgende IBAN: CH12 0900 0000 6057 7443 6, Lautend auf: Border Crossing AG, Schwanengasse 11, Postfach, 3001 Bern. Ich bleibe dabei: Dieses Buch ist ein ideales Geschenk.

Meine Heldinnen im Supermarkt

Donnerstagabend, die Uhr zeigt Viertel nach fünf. Beim Supermarkt im Quartier steige ich vom Fahrrad, schliesse es ab und merke: Etwas ist anders.

Beim Eingang warten tatsächlich nicht Kundinnen und Kunden im üblichen Zwei-Meter-Abstand. Nein, die Angestellten stehen Spalier. Alle haben ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht.

Da dämmert es mir: «Shut, heute ist ja Gründonnerstag, die Läden schliessen um 17 Uhr, sind also jetzt: zu!» Dumm gelaufen, aber typisch für mich. Ich werde es in diesem Leben nicht mehr auf die Rolle kriegen, dass es vor Karfreitag verkürzte Öffnungszeiten gibt.

In meinem Kühlschrank habe es nur noch Senf und Licht, erkläre ich dem Migros-Mitarbeiter, der zuvorderst steht. Das stimmt zwar nicht, klingt aber witzig. Er grinst und sagt in gespielt barschem Ton: «Sie haben drei Minuten Zeit!»

Ich nehme den Ball auf: «In zweieinhalb Minuten stehe ich schon wieder draussen. Grosses Indianerehrenwort!» Er lacht, macht eine elegante Handbewegung und schon bin ich drin, poltere die Rolltreppe hinunter und schnappe mir ein oranges Körbchen.

Ich husche durch das bereits abgedunkelte Ladenlokal, was mir das Gefühl gibt, ein Einbrecher zu sein. Andere Gestalten sind auch noch zwischen den Regalen unterwegs: Zwei bleichgesichtige Familienväter und ein paar Studis mit schlabbrigen Trainerhosen. Ich bin also nicht der einzige, der die Arbeitszeit der Crew verlängert.

Rüebli – hopp, Äpfel – hopp, Birchermüesli – hopp, zwei Liter Milch – hopp, Hefe – hopp. Es ist noch alles da.

Alles?

Nein, das Mehl finde ich nicht! Also gehe ich zur einzigen bedienten Kasse, wo eine junge Frau mit einem dunklen Lockenkopf sitzt. Auch sie scheint gute Laune zu haben.

«Diiiir, exgüsé, ig finde ds Mäu ned. Chöit dir mir säge, wos isch?» (Mein Berndeutsch wird immer besser, ha!)

Sie nickt freundlich: «Ig chume gschnäu mit!»

Dann wieselt sie los, ihre Locken wirbeln durch die Luft, ich hinterher. Schliesslich sind wir beim richtigen Regal angelangt. Es ist leer. «Stuzzi Cadenti!» fluche ich innerlich. Doch dann, nach ein paar Augenblicken, entdecken wir in der untersten Reihe zuhinterst noch eine Packung. Die Verkäuferin greift danach und hält sie ins spärliche Licht. Wie eine Trophäe.

Weissmehl, ein Kilogramm. Um ein Haar hätte ich die junge Frau umarmt.

«Wäutklass! Wüsst dir, morn wotti ä Züpfe mache.»

Sie lächelt und wir knuffen unsere Ellbogen zusammen.

Beim Ausgang stehen immer noch ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen, jetzt in lockerer Formation, und tratschen zusammen. Ich hebe die freie Hand zum Gruss: «Dir sit Heldinne. Es riesigs Merci!» Sie wünschen mir einen schönen Abend. Migros-Gründer Dutti hätte spätestens jetzt eine Träne der Freude verdrückt.

 

PS:   Seit die Corona-Krise ihren Anfang nahm, beobachte oder erlebe ich fast jeden Tag solche Szenen. Sie sind herzerwärmend. Die Menschen sind aufmerksam und hilfsbereit, sogar Wildfremde grüssen sich in der Stadt. Meine Hypothese, dass unsere Gesellschaft von Individualismus und Hedonismus zerfressen wurde, ist ins Wanken geraten.

Ein zweites PS:   Was die Angestellten im Detailhandel in diesen Wochen leisten, ist grandios, vor allem: Wie sie es leisten. Eine bessere Bindung zu uns Kundinnen und Kunden gibt es kaum. Das ist mehr Wert als eine Werbekampagne in Millionenhöhe. Mein Shoutout geht an die Migros-Crew am Breitenrainplatz in Bern.

Du dumme Kuh, du!


Auf anspruchsvollen Velotouren
werden meine Beine gegen Schluss oft schwer. Oder es kommt ein fieser Hoger. Viele Radfahrerinnen und Radfahrer schwören in solchen Situationen auf Energieriegel. Eine gute Kollegin weiss sich anderweitig zu helfen: Sie zählt stumm und im Rhythmus auf vier, immer wieder aufs Neue. Wenn es sein muss, zieht sie das durch, bis sie ihr Tagesziel erreicht hat.

Diese Technik probierte ich übers Wochenende aus, als ein Aufstieg nicht mehr enden wollte, die Kraft aber zusehends schwand. «Eins, zwei, drei, vier», murmle ich leise leidend vor mich hin. Die Zahlen nenne ich stets dann, wenn das linke Knie gestreckt ist. Nach wenigen Minuten wird mir das zu monoton. Also ergänze ich mit Fremdsprachen. Dazu nehme ich Bosnisch und Dänisch, weil ich in beiden Sprachen zählen und fluchen kann.

eins – zwei – drei – vier
uno – due – tre – quattro
un – deux – trois – quatre
un – dos – tres – cuatro
one – two – three – four
jedan – dva – tri – cetiri
en – to – tre – fire

Die Ablenkung wirkt, das Velofahren ist weniger anstrengend als zuvor, der Schweiss fliesst weiter. Ich suche eine weitere Herausforderung und wechsle die Sprache nach jeder Zahl, also zum Beispiel «Eins, dos, tri, quatre».

Die neue Methode verlangt meine volle Konzentration, zum Glück fahre ich nur langsam bergan. Ich zähle jetzt mit halblauter Stimme und habe meinen Blick stur auf das Vorderrad geheftet. Mein Hirn muss hart arbeiten.

Plötzlich zucke ich zusammen: Vor mir sind lange graue Beine aufgetaucht, geistesgegenwärtig ziehe ich die Bremsen. Einen knappen Meter vor dem Viech kommt mein Göppel zum Stillstand. Mein Herz schlägt laut, die Kuh, die vor mir steht, glotzt mich nur dumm an. Auf ihrer Nase krabbeln Fliegen herum. Bockstill steht sie auf dem Strässchen und glotzt mich einfach unverwandt an. Ob es an meinem Velodress liegt, der an Borat erinnert?

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen bin, bemühe ich aus unerfindlichen Gründen den Balkan-Slang: «Ey, du Chueh, du! Putz di uf d Site, Mann! Ich mues do dure, Mann!»

Die Kuh macht keinen Wank. Sie glotzt mich nur an.

Ich hätte «Jellow Jeff» links oder rechts um die Kuh herumstossen können, dann aufsitzen und wieder lospedalen. Aber das gibt mir der Kopf nicht zu, ich will Kuhbändiger sein.

Es muss ein Mix aus Erschöpfung, viel Sonne und Höhenluft sein: Plötzlich brechen aus mir Fluchwörter heraus, viele Fluchwörter – auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Dänisch und Bosnisch. Ich f l u c h e mit lauter Stimme, kunterbunt durcheinander und vermutlich fuchtle ich auch mit den Händen herum.

Plötzlich versiegt der Schwall, es ist wieder still. Die Sonne brennt und die Fliegen krabbeln immer noch auf der Nase herum. Der Kuh ist die Sache offenbar nicht mehr geheuer. Sie wendet sich ab und trottet davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Fazit:
Ich erreichte mein Tagesziel, habe eine neue Ablenkungsmethode für mich entdeckt, die allerdings nicht ganz gefahrlos ist, und bin jetzt Dumme-Kuh-Bändiger. Von Sachverständigen liess ich mir inzwischen erklären, dass Kühe keine Fluchttiere sind.

Bertschi, Balsiger, blaue Augen

Seit bald 20 Jahren versuche ich zu eruieren, wieso Newcomer Hugo Hugentobler gewählt wurde, währenddem Fredy Fretz, der Kronfavorit derselben Partei, auf der Strecke blieb. Was machte Kandidatin Doris Dosenbach besser als Balbina Bally?

Aus diesen Fragen wurde in den Nullerjahren eine grosse Studie, die ich an der Uni Bern erarbeitete. 1500 Kandidatinnen und Kandidaten, die in den Nationalrat gewählt werden wollten, stellte ich dieselben 70 Fragen – das Codieren und Auswerten war eine Mordsbüez. So entstand schliesslich das 26-Erfolgsfaktoren-Modell, will heissen: es gibt insgesamt 26 Faktoren, die in einem Wahlkampf eine Rolle spielen.

Das Aussehen ist ein Erfolgsfaktor. Georg Lutz, inzwischen Politologieprofessor an der Universität Lausanne, kam 2007 in einer grossen Feldstudie zum selben Schluss: «Gutaussehende Kandidatinnen und Kandidaten erhalten mehr Stimmen.»

So viel zur Vorgeschichte.


Am 23. Oktober letzten Jahres kommentierte ich beim Regionalsender Tele M1 als Expertli die Aargauer Wahlen. Eine der Überraschungen dieses Wahltages: Karin Bertschi aus dem Bezirk Kulm, damals 26 Jahre alt, wurde aus dem Stand gewählt, routinierte SVP-Kämpen liess sie hinter sich.

Sie sei «ein politisches Greenhorn», gestand sie freimütig. Die Medien hatten aber zuvor dafür gesorgt, dass Bertschi einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Der Boulevard liebt die «Recycling-Prinzessin», sie führt in Reinach (AG) eine Recyclingfirma und nutzt den Boulevard. Sie tut es sympathisch. Als Prinz oder hochbezahlter Berater hätte ich ihr allerdings nahegelegt, die Fotosessions am Arbeitsplatz mit «Blick», «Schweizer Illustrierten» & Co. im Overall oder in Jeans zu bestreiten. Bilder sollten stimmig sein.

Doch zurück zum Wahltag: Bei der Instant-Analyse mit Tele-M1-Moderatorin Sabrina Müller dampfte ich den Erfolg Bertschis auf einen 20-Sekünder ein: «Sie ist jung, fotogen und ein kleiner Medienstar. In dieser Kombination reicht das für eine Wahl.» Die wissenschaftliche Erkenntnis schob ich hinterher – zum Glück.

Am letzten Dienstag wurde mein Zitat im „TalkTäglich“ von Tele M1 rezykliert, zu Gast war: Karin Bertschi. Konfrontiert mit meiner fast 14 Monate alten Einschätzung konterte sie:

«Ist Herr Balsiger nur frustriert, weil er als Mann geboren wurde, keine blauen Augen und Rapunzelhaare hat?» Und fügte an: «Wenn seine These wahr wäre, müssten im Grossen Rat ja lauter Miss-Schweiz-Kandidatinnen sitzen.»

Die «Aargauer Zeitung» gehört zur selben Mediengruppe wie Tele M1 (Peter Wanners AZ Medien). Wie alle anderen Medien ist sie erpicht darauf, möglichst viele Klicks zu generieren. Dazu eignet sich Videocontent vorzüglich. Menschen mögen bewegte Bilder, Algorithmen auch. Also hat die AZ den Talk zusammengefasst und zwei Videosequenzen integriert. Der Titel dieser Story:

Nun, liebe Frau Bertschi, Sie werden zu diesem Blog-Posting finden, weil Politikerinnen in der Regel etwas eitel sind, Politologen übrigens auch, und deshalb wende ich mich direkt an Sie. Klären wir doch diese Sache mit einem Augenzwinkern:

Sie haben blaue Augen – me too. Seit 50 Jahren. Meine blinzeln seit jeher lebenslustig in die Welt, la vita e bella. Das mit der Frustration will also auch nicht passen, und stellen Sie sich vor: ich bin gerne Mann. Bleiben die Rapunzelhaare. Ich musste herzhaft lachen, als Sie dies im Gespräch mit Moderator Rolf Cavalli erwähnten. Sehen Sie, in meinem Alter ist Mann schon zufrieden, wenn auf dem Kopf überhaupt noch etwas spriesst.

Über ihre Wahl habe mich übrigens gefreut! Ich freue mich für jede Frau, die in ein politisches Amt gewählt wird, egal zur welcher Partei sie gehört. Es gibt zu wenig Frauen in der Politik! Testosterongesteuerte Politik bringt uns nicht weiter, egal ob im Bundeshaus oder im Unterwallis.

Der 20. Oktober 2019 ist in meiner Agenda vorgemerkt. Dann finden die nächsten eidgenössischen Wahlen statt. Wenn Sie bis dann noch einen Strick in der Politik zerreissen, werden Sie den Sprung in den Nationalrat vermutlich schaffen. Hoffentlich erhöht das auch den Frauenanteil in der SVP-Fraktion. Zurzeit liegt er unter 20 Prozent.

P.S.
Liebe Leser (m) und Gwundernasen (w/m), der wahre Grund für diesen Text: Ich wollte aufzeigen, wie das Clickbaiting der Medien funktioniert. Den Teaser platzierte ich auf meinem Facebook-Profil.

Zum Abgang gibt’s noch etwas Vox Populi:

Eine Auswahl der Online-Kommentare in der «Aargauer Zeitung» vom 6. Dezember 2017.

#EgoPost #TeleM1 #KarinBertschi #WahlAG16 #nrw19 #Clickbaiting

Er wollte mir eine neue Krankenkasse aufschwatzen


Mein mobiles Sklavengrätli
vibriert. Auf dem Display ist eine Festnetznummer mit 041er-Vorwahl zu sehen. „Aus der Zentralschweiz droht selten Schlimmes“, denke ich und nehme ab: „Balsiger?“

„Einen wunderschönen guten Tag! Bin ich mit Herrn Mark verbunden?“, ertönt eine Männerstimme, geschliffen und in perfektem Hochdeutsch.

Ich ahne schon, was jetzt gespielt wird, also spiele ich mit.

„Vermutlich ist in Ihrer Datenbank mein Vor- und Nachname durcheinandergeraten. Sie dürfen mir trotzdem gerne Herr Mark sagen, solange Sie den Buchstaben K kkkräftig betonen“, antworte ich in ähnlich überzeugendem Hochdeutsch. „Wissen Sie, so wie Bundesrätin Doris Leuthard aus jedem „ch“ ein eidgenüsslich-rustikales „ckk“ macht.“

Am anderen Ende der Leitung ist eine leichte Irritation spürbar. Nach zwei Sekunden:

„Alles klar, Herr Mark. Sie standen ja letzte Woche mit unserer Sabina Meister in Kontakt. Es ging um Ihre Krankenkasse, die…“

Ich unterbreche: „Sabina Meister?! Entschuldigung, diesen Namen kann ich nicht zuordnen. Und wenn es um Krankenkassen geht, müssen Sie eines wissen: Ich bin zwar männlich und gesund, aber schon haarscharf über 40, gehöre also nicht mehr zur Kategorie der guten Risiken. Die Datenbank Ihres Krankenkassen-Brokers ist veraltet – und ich bin goppeletti mit ihr gealtert.“

„Alles klar, Herr Mark. Sehen Sie, wir haben ein sehr preisgünstiges…“

Wieder fahre ich ihm ins Wort: „Nichts ist klar!“ Meine Stimme klingt zwei Sätze lang wie ein Feldweibel im Kalten Krieg klingen musste, und die anderen Passagiere im Intercity von Bern nach Interlaken drehen ihre Köpfe interessiert zu mir. (Okay, einer guckt echli hässig, weil ich zu laut geworden bin. Exgüsé, das bin ich sonst im öffentlichen Raum nie!) Dann bin ich wieder extrem anständig.

„Haben Sie eine juristische Ausbildung?“, frage ich mit honigsüsser Stimme.

„Nein.“

„Sehen Sie, im Schweizerischen Strafgesetzbuch Artikel 263, Absatz 2, steht, dass Sie meine Telefonnummer nicht einstellen dürfen, weil sie mit einem Sternchen versehen ist. Wenn Sie die Nummer noch einmal wählen, nimmt unser Hausjurist ab, und ich sage Ihnen, das ist ein scharfer Hund! Der kläfft nicht nur wie Nachbars Rex, sondern verfolgt Sie wie ein Terrier. Und das wird dann teuer für Sie persönlich, Herr… Wie war nochmals ihr Name?“

„Tu-tu-tu“, tönt es in der Leitung.

Liebe Freunde in der Politik, solche Werbeanrufe „are a pain in the a…“, ach, Sie wissen schon wo. Das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb will immer noch nicht richtig greifen.

Liebe Freundinnen bei den Krankenkassen, ich weiss, dass die alljährigen Prämienschübe nicht auf ihre Arbeitgeber zurückzuführen sind. Aber diesen aggressiven Brokern müsste man das Handwerk doch legen können, im ureigenen Interesse, nicht?

P.S.
Der Artikel des Strafgesetzbuchs, den ich nannte, ist übrigens frei erfunden. Er hat mit dem Thema nichts zu tun. Die Sache ist im Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Artikel 3, Absatz 1 festgehalten.

Als mich plötzlich zwei Elche anglotzten


Nebelschwaden hängen
in den Baumwipfeln und Sträuchern – erste Anzeichen des Herbstes, der hier im Norden schon begonnen hat. Ich befinde mich zurzeit in der schwedischen Provinz Värmland, nahe an der Grenze zu Norwegen. In gemächlichem Tempo radle ich auf einem Schottersträsschen nordwärts. Es ist kühl an diesem frühen Morgen, ein leichter Gegenwind bläst, es nieselt und ich bin noch nicht ganz wach. Kein Mensch weit und breit, kein anderer Radfahrer, keine Autos, kein Traktor – einfach Stille. Herrlich.

Eine leichte Rechtskurve – und dann plötzlich sehe ich sie, etwa 25 Meter vor mir, mitten auf dem Strässchen: Sie haben dünne und unendlich lange Beine, ihre Köpfe sind unförmig. Die beiden ausgewachsenen Elche glotzen in meine Richtung, machen aber keinen Wank. Ich bin nun hellwach, drossle das Tempo und rolle langsam auf sie zu.

Die Elche glotzen. Ich glotze.

Sie scheinen etwas verwirrt zu sein. Womöglich ist es wegen meinem Outfit, bestehend aus einer knallgelbe Regenjacke, einer giftig-grüne Regenhose sowie einem Velohelm, der an einen Kübel erinnert. Ich sehe zweifellos ziemlich doof aus. Das gilt allerdings auch für die Elche. Bei ihnen ist das seit Geburt so. Arme Geschöpfe.

Das gegenseitige „Schau-mir-in-die-Augen-Schlaks“ dauert keine drei Sekunden. Dann galoppieren die beiden ohne jegliche Eleganz davon, halten aber nach 30 Metern auf einem Stoppelfeld inne und glotzen wieder zu mir hinüber. Dann verschwinden sie im Dickicht.

Ein Ausschnitt aus meinem Tagebuch – datiert vom 4. August 2016.

Seit Anfang Juni ist es ein Ritual: Jeden Abend scrolle ich vor dem Einschlafen durch das Tagebuch #ToNorthCape2016 und lese nach, was ich genau vor einem Jahr erlebte. Ergänzt mit Fotos desselben Tages bin ich so noch einmal auf dieser Velotour, die von Bern ans Nordkap führte. Schweissfrei.


In einer Sommerserie
porträtiert die “Aargauer Zeitung” Leute, die einen Roadtrip unternommen haben. Vorgestern war meine Velotour von Bern ans Nordkap an der Reihe.

Als PDF zum Herunterladen:

“Velofahren bedeutet für mich Freiheit” (PDF, 2. August 2017)

 

Von Politikern und Würsten

Mittwochabend, kurz vor 23 Uhr. Der IC von Zürich rollt in Bern ein. Er ist gut besetzt. Dutzende von nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind auszumachen, zufälligerweise nahmen viele denselben Zug zurück in die Bundesstadt: Grüne, SVP’ler und Grünliberale. Sie waren auf ihren Fraktionsausflügen, die traditionell während der Sommersession stattfinden. In der Regel werden am Nachmittag Firmen oder Institutionen besucht, gefolgt von einem geselligen Nachtessen, Medienschaffende und Politbeobachter werden auch eingeladen.

Der IC rattert langsam über die Weichen des Bahnhofs Bern, die Parlis, bunt gemischt, stehen im Gang und warten, bis der Zug hält. Da erhebt GLP-Nationalrat Beat Flach (GLP, AG) die Stimme:

„Bei uns gab es Rindsfilet zum Znacht. Was haben sie euch aufgetischt?“

Ein Ratskollege, mehrfach gescheiterter Bundesratskandidat, von Geburt weg welscher und inzwischen auch etwas schwerer Zunge antwortet:

„Wir aben nur Würste.“ (Ein Vollverb liefert er nicht.)

Einer reagiert fix, halblaut, aber doch für viele noch hörbar:

„Sprach er eben über die Leute in seiner Fraktion?“

Schallendes Gelächter.

 

Die Partner-Anzeige: analog und anonym

Seit Oktober letzten Jahres ist meine Firma in der Berner Matte zu finden – ein Übergangsstandort. Für Nicht-Ortskundige: Die Matte ist das Quartier, das früher bei Hochwasser oft dramatische Bilder hergab. Zum letzten Mal im Sommer 2005, als die wütenden Fluten sogar Autos aareabwärts rissen.

Der Dreh- und Angelpunkt des Quartiers ist das „Matte“-Lädeli. Es wird rege frequentiert, Anwohnerinnen und Pendler besorgen hier ihre kleinen Einkäufe. Ich halte es seit Beginn auch so, mal ist es ein Laib Brot, mal Käse – und wenn der Zuckerspiegel zusammenfällt, tue ich das einzig richtige: Ich kaufe Schoggi. Subito.

Gestern entdeckte ich beim Eingang des Lädelis eine weisse Karte, die an der Wand klebt: „Frau sucht Mann.“ Und darunter steht „1.81 / 51“. Die Typografie ist zeitlos schön.

Eine analoge Anzeige im Zeitalter von Online-Dating à la Tinder – das ist unendlich romantisch. Und typisch für die Matte. Eine Möglichkeit, mit der Frau, 1.81 / 51, in Kontakt zu treten, gibt es übrigens nicht. Oder nicht mehr. Der untere Teil Karte wurde abgerissen. Hoffentlich vom Richtigen.

Womöglich löst die „Brunne-Zytig“, so heisst das gedruckte Organ der unteren Altstadt, in der nächsten Ausgabe diese Geschichte auf: der Anfang einer Liebesgeschichte, wie sie noch kein Romancier je hingebracht hat. Hach, nur schon beim Gedanken daran, komme ich ins Schwelgen. Vielleicht… vielleicht sollte ich den Roman gleich selber schreiben.

Nederlands für Einsteiger

Ein englischer Schriftsteller, sein Name ist mir selbstverständlich entfallen, definierte einmal, wie die niederländische Sprache entsteht: “Man setzt sich einfach auf eine mechanische Schreibmaschine – mit Anlauf.” Eine hübsche Veräppelung.

Ich mag diese Sprache. Bei jedem Aufenthalt in Holland ergänze ich meine Liste mit logischen und kurligen Worten. Dieses Mal habe ich das teilweise mit Fotos dokumentiert.

Wegen meiner Velotour #ToNorthCape2016 ist es naheliegend, dass der Fokus zunächst einmal beim Drahtesel liegt. Also:

– Velo = fiets
– Töffli = bromfiets

So weit, so logisch. Werden wir kreativ:
– E-Bike = e-nix-brom-fiets

Diesen Vorschlag habe ich inzwischen der Akademie für niederländische Sprache und Dichtung eingereicht.

Nochmals das Thema Fahrräder:

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Das verstehen wir Schweizerinnen und Schweizer mit links.

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Wenn fietsen also Fahrräder sind, müssen fietsers entsprechend Radfahrer sein. Das Wort oversteken tönt in unserer Mundart verblüffend ähnlich: überestäche.

In einem neuen Quartier in Nijmegen fand ich dieses Schild, womit wir auch das Wort Strasse verinnerlicht hätten. Hanna Arendt können wir ohnehin schon lange rückwärts deklinieren.

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Die Bakkerij ist die Bäckerei, entsprechend ist die Pottenbakkerij die… Töpferei – logisch.

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Zunächst komplett überfordert war ich bei dieser Werbung:

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Dubbel heisst doppelt. Also geht es um “doppelt so günstig”, was auch Holländerinnen als doofes Wortspiel bezeichnen. Werber – nachsitzen!

Schliesslich sind wir wieder bei den Velos angelangt. Letztes Wochenende stand ich ausserhalb von Utrecht an einer Kreuzung und erblickte dieses Schild – eine Rarität. Ich war verwirrt.

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Tegelijk groen verstand ich so: Täglich einmal grün. Das hätte dauern können. Also fuhr ich gleich los. Bei Rot.

Tegelijk heisst, wie ich jetzt dank Twitter-Freunden weiss, gleichzeitig bzw. zusammen. Alles klar, die Niederlande habe ich inzwischen doch wieder verlassen. Alleine.