«Fuck the planet» oder Ja stimmen, du entscheidest

In den letzten Tagen glaubte ich mehrmals, dass mich der Affe laust. So sagte in der letzten SRF-«Arena» Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (SVP), der Klimawandel habe auch Vorteile. «Zum Beispiel für den Sommertourismus in Graubünden.»

Wie bitte?

Ein Flugblatt eines zunächst anonymen Komitees «Rettung Werkplatz Schweiz» sorgte zuvor für viel Wirbel. In diesem Pamphlet steht, dass der Mensch keinen Einfluss auf die Erderwärmung habe. Weiter wird die Wissenschaft per se an den Pranger gestellt. Inzwischen ist bekannt, dass hinter diesem Komitee ein SVP-Mitglied aus Stäfa (ZH) steht. Der Vollversand an alle 4 Millionen Haushaltungen unseres Landes kostete rund 800’000 Franken.

Die Absicht hinter diesen faktenfreien Aussagen ist klar: Die Schweizerinnen und Schweizer sollen verunsichert werden. Wer am Nutzen des Klimaschutzgesetzes zweifelt, nimmt womöglich an der Abstimmung vom 18. Juni gar nicht teil oder sagt Nein.

Also zurück auf Feld eins. Klimaforscher Thomas Stocker, der seit Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, fasst in einfachen Worten zusammen, worum es geht:

«CO2 ist ein Treibhausgas. Der Anstieg von CO2 wird durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas sowie durch die Abholzung verursacht – ist also zu 100 Prozent menschgemacht. Millionen von Messungen zeigen die weltweite Erwärmung seit 1900. Jedes weitere Jahr mit Emissionen führt zu einer weiteren globalen Erwärmung mit lokalen Auswirkungen. Gehen die Emissionen nicht zurück, führt das zu einer globalen Erwärmung um 4 bis 5 Grad, in der Schweiz um 7 bis 8 Grad.»

(Stockers Aussage wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.)

Die meisten Staaten entschieden 2015 mit dem Klimaabkommen von Paris, den Ausstoss von CO2 bis 2050 auf Netto-Null senken zu wollen. So steigt die Temperatur global um weniger als 2 Grad.

Die Abstimmungskampagne des Nein-Lagers dreht sich um alles mögliche, vor allem angeblich horrende Kosten. Doch darüber stimmen wir am 18. Juni gar nicht ab. Vielmehr geht es beim Klimaschutzgesetz um vier Punkte:

– Es definiert die Ziele für den schrittweisen Ausstieg aus der Abhängigkeit von Erdöl und Gas bis 2050;

– es schafft Planungssicherheit, was für die Wirtschaft zentral ist;

– es unterstützt Hauseigentümer, wenn sie ihre Öl- oder Gasheizungen ersetzen. Dasselbe gilt für Besitzerinnen von Elektroheizungen, die auf klimafreundliche Systeme umsteigen;

– Innovationen werden gefördert.

Das Gesetz beinhaltet keine Verbote und keine neuen Abgaben oder Steuern. Das anerkennt selbst Albert Rösti, bis Ende letzten Jahres noch Nationalrat und Mitglied des «Stromfresser»-Referendumskomitees.

Nach einem Ja werden in den nächsten zehn Jahren 3,2 Milliarden Franken an Subventionen zur Verfügung gestellt. Klar, das ist viel Geld, doch ein Vergleich relativiert: Der Landwirtschaftssektor wird seit Langem mit etwa 3,5 Milliarden Franken pro Jahr subventioniert, wovon Direktzahlungen 2,8 Milliarden ausmachen.

Klar, der Umbau der Energieversorgung zu Netto-Null geht ins grosse Tuch. Klar, Lenkungsabgaben wären eleganter gewesen, aber davor fürchtete sich das Parlament.

Drei Punkte, die den Faktor «Geld» in einen grösseren Kontext stellen:

– Man muss unterscheiden zwischen Investitionen und Kosten;

– bislang fliessen jedes Jahr rund 8 Milliarden Franken für Erdöl und Gas an Saudis und Schurken. In der Schweiz investiert, schafft das viele neue zukunftsträchtige Arbeitsplätze;

– Die Folgekosten des Klimawandels würden horrend hoch, gerade in der gebirgigen Schweiz.

Natürlich rettet die Schweiz das Weltklima nicht mit einem Ja am 18. Juni. Aber sie macht einen wichtigen Schritt, damit der Ausstoss von Treibhausgas reduziert wird, so wie das in mehr als 190 anderen Ländern auch geschieht.

Zur breiten Ja-Allianz gehören fast alle Parteien, die meisten Wirtschaftsverbände, namentlich die Industrie, zahllose NGO sowie die Bäuerinnen und Bauern. Gerade letztere wissen, welche Auswirkungen deutlich höhere Temperaturen für Natur und Umwelt haben.

Es gibt weiterhin Leute, die den Klimawandel leugnen oder als Pipifax bezeichnen, und es gibt solche, die mit einer «Fuck the planet»-Einstellung auffallen. Das muss eine liberale Gesellschaft ertragen. Ich schätze, dass bloss 10 bis höchstens 20 Prozent der Bevölkerung eigenverantwortlich handelt. Dass dieser Wert so tief liegt, lässt mich meine Backenzähne zermalmen. Ich verstehe es nicht!

Alarmismus und apokalyptische Erzählungen halte ich für kontraproduktiv. Gleichzeitig mögen viele Leute das Wort Klimawandel nicht mehr hören. Ihnen sei in Erinnerung gerufen, dass der Klimawandel keine Sommergrippe ist. Man kann ihn verdrängen, verharmlosen oder verfluchen – das Problem bleibt.

Foto: dpa
Sujet: Bewegung Courage Civil 

Mein erster Rausch – wegen Tina

Als Teenager hatte ich Pickel auf der Stirne, Flausen im Kopf, Bäckerhosen im 7/8-Schnitt und eine grosse Liebe: Musik. Das Geld, das ich als Zeitungsverträger verdiente, reinvestierte ich zu praktisch 100 Prozent in Langspielplatten. (Für Leute der Generation Z: Das sind Kuhfladen-grosse schwarze flache Scheiben, die beim Abspielen x-fach besser klingen als dieselben Songs über Spotify & Co.) Samstag für Samstag pilgerte ich nach Brugg zu «Fairplay Records», und Co-Inhaber René Wermelinger (selig) wusste genau, welche «heissen Scheiben» er mir vorspielen musste.

Er verdiente gutes Geld mit mir, und ich habe dank ihm eine grandiose Sammlung. Nie würde ich mich auch nur von einer dieser Platten trennen!

Als mir René an einem Frühlingstag im Jahr 1984 «Private Dancer» von Tina Turner auflegt, kippe ich nicht vom Hocker. Erst bei «I might have been queen» bin ich hin und weg. Begeistert sage ich: «Einpacken!», 19 Franken wechseln den Besitzer und ich radle heimwärts. In meinem Zimmer tanzt die Nadel über die LP, und diese wird beim Hören jedes Mal besser.

Erhebungen kommen immer wieder zum selben Schluss: Die Musik, die uns im Alter zwischen 15 und 18 Jahren gefiel, lässt uns ein ganzes Leben lang nicht mehr los. Sie prägt.

Ein knappes Jahr später ist Tina Turner auf Europatournee. Ich fahre mit viel Bargeld in die ferne Stadt, um im Vorverkauf Tickets zu ergattern. Das Internet gab es damals noch nicht, und ich erinnere mich, wie ich einen kleinen Stapel glänzendes Papier wie eine Trophäe nach Hause brachte: 15 Eintrittskarten. (Eine kostete damals 24 Franken.)

Am 8. März 1985 fährt unsere bunt zusammengewürfelte Truppe mit dem Zug nach Oerlikon, und wir drücken uns mit 10’000 anderen Fans vorfreudig ins Hallenstadion. Um acht Uhr geht das Licht aus, Bryan Adams stürmt auf die Bühne und macht vom ersten Moment an klar, dass er richtig abdrücken will. Das Publikum ist flugs auf den Beinen und lässt sich anstecken, die Party geht los. Wer lange Haare hat, lässt sie durch die Luft wirbeln.

So viel Charisma, so viel Energie

Kaum ist Tina Turner auf der Bühne, geraten die Fans im ausverkauften Stadion erst recht aus dem Häuschen. Die Band ist stark, das Set ausgezeichnet, die Energie, die die Sängerin über die ganze Show mobilisieren kann, ist enorm. Tina zieht uns in ihren Bann mit ihrem Charisma und ihrer Stimme, die mal roh, mal soulig klingt. Am besten finde ich ihre Covers von Al Green, CCR, Iggy Pop oder den Beatles. Sie gibt ihnen ihre eigene Prägung. Was den Unterschied zu fast allen anderen Künstlerinnen ausmacht, ist ihre Präsenz.

Ich hüpfe während des ganzen Konzerts im Takt mit, reisse immer wieder die Arme in die Höhe und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben komplett berauscht, und das ohne einen Schluck Alkohol getrunken zu haben. «Rock is a drug» wussten Spliff schon 1980 in ihrer grandiosen «The Spliff Radio Show».

Aufgekratzt taumeln wir durch die Strassen zum Bahnhof und singen die Songs nochmals mit heiserer Stimme. Das klang zweifellos ziemlich falsch, aber: in dieser Nacht gehörte uns die ganze Welt.

 

PS:
Gestern wurde Tina Turner im Alter von 83 Jahren abberufen. Ich zündete eine Kerze an und hörte den ganzen Abend die Songs ihrer langen Karriere. Das beste Album ist für mich «Live in Paris» aus dem Jahr 1971, als ihr damaliger Mann, Ike Turner, noch mitgewirkt hatte. Er war zwar ein übler Kerl, wie wir seit der Biografie «I, Tina» (1986) wissen, aber die richtig guten Songs hat er geschrieben.

Foto: Getty Images

Wer Sascha Ruefer kritisiert, sollte auch die Rolle des Filmregisseurs hinterfragen

Sascha Ruefer liebt das Spektakel im Fussballstadion. Über Ostern geriet er selbst in den Strudel eines üblen Spiels, bei dem es um Rassismusvorwürfe und journalistische Ethik geht. Bislang wenig beleuchtet wurde die Rolle der Regisseurs, der den Dokfilm realisierte. Hätte der TV-Kommentator allerdings drei Punkte beachtet, wäre er nicht ins Offside getappt.


Während der Fussball-WM
in Katar gibt Ruefer dem Regisseur eines Dokfilms über die Schweizer Fussballnationalmannschaft ein Interview. Simon Helbling dreht dort im Auftrag von SRF für den Sechsteiler «The Pressure Game – im Herzen der Schweizer Nati». Der offizielle Teil dauert 45 Minuten. Für die Schnittbilder führen die beiden das Gespräch auf der Couch weiter, was weitere 20 Minuten Rohmaterial abwirft. In diesem «Off the record»-Teil machte Ruefer eine Aussage, die ihm jetzt um die Ohren fliegt.

Die ominöse Aussage wurde geleakt und landete schliesslich bei der Wochenzeitung WOZ, die am Gründonnerstag ihren Artikel mit dem Titel «Der Schweizermacher» lanciert. Bei ihr lautet das Zitat so: «Granit Xhaka ist vieles, aber er ist kein Schweizer.» Die WOZ reisst es aus dem Kontext und gibt ihrer Story einen eigenen Spin. Die Aussage sei «klar rassistisch», schreibt sie. Inzwischen ist der Kontext geklärt: Ruefer sprach nicht über die Person Xhaka, sondern über dessen Führungsverständnis als Kapitän der Nationalmannschaft.

Der Rassismus-Vorwurf zusammen mit den Reizfiguren Ruefer und Xhaka – dieser Mix ist explosiv. Auf Twitter zoffen sich alsbald Rassismus-Expertinnen und Fussballfans, die genau wissen, was richtig und was falsch ist. Über journalistische Standards wissen sie weniger Bescheid. Andere Medien ziehen nach, Clickbait winkt von der Seitenlinie und ein Sportjournalist gibt den TV-Star bereits zum Abschuss frei («Ohne Gegenbeweis ist SRF-Reporter Sascha Ruefer kaum zu retten»). SRF, Ruefer und die private Produktionsfirma gehen zunächst auf Tauchstation, der Brand greift um sich.

Schlaglicht auf die Krisenkommunikation: Am Gründonnerstag sortieren sich SRF und Ruefer. Am Karfreitag laden sie ein paar routinierte Sportjournalisten von «Blick», «Tages-Anzeiger», NZZ, CH-Media sowie «20 Minuten» ein und zeigen ihnen die Rohversion des Gesprächs, also die vollen 65 Minuten. Das stellt endlich den richtigen Kontext her – und wirkt: die Berichterstattung ist seit Samstag differenzierter, Ruefer wird entlastet.

Was ein paar Medien in der ersten Phase lieferten, war kein Ruhmesblatt. Ruefer ist allerdings selbst schuld, dass er ins Offside tappte. Drei Punkte, die bei Interview-Settings immer gelten:

– Schlüsselfiguren sollten stets einen «Watchdog» dabeihaben, das heisst eine Fachperson, die zusieht und genau zuhört. Ist eine Aussage problematisch oder falsch, interveniert sie sofort, also unschweizerisch direkt. Das ist in Doha genauso möglich wie in Diessenhofen oder Dublin.

– Auch in einem Dokfilm ist Kürze gefragt. Bei Interviews braucht es einen klaren Fokus und wenige Fragen dazu. Der Fokus wird im Vorfeld gemeinsam geklärt. Wer sich in ein langes Gespräch verwickeln lässt, kann ins Plaudern kommen. Routine und Selbstgefälligkeit sind in solchen Fällen gefährlich.

– Jedes Interview besteht aus einem Vorgespräch (hinter der Kamera, ohne Aufzeichnung!), dem eigentlichen Interview und einem dritten Teil, der sogenannte Einführungs- und Schnittbilder liefert. Sie zeigen den Gast beispielsweise lesend oder diskutierend. Wenn ich als «Watchdog» engagiert bin, lege ich stets im Vorfeld fest, dass im Nachgespräch ein unverfängliches Thema besprochen wird, etwa der letzte Urlaub. Keinesfalls darf es sich um das Hauptthema drehen.

Viele Regisseure zeichnen «off the record» auf – absichtlich

In Ruefers Fall wurden die Kameras nach dem Interview nicht gestoppt, das Gespräch ging aber «off the record» weiter. Viele Filmregisseure gehen absichtlich so vor, weil sie wissen, dass ihre Interviewpartner nach dem offiziellen «Schluss – das war’s!» entspannter antworten. Fakt ist, dass es journalistische Standards verletzt, wenn Aussagen aus einem «Off the record»-Gespräch verwendet werden. In der ersten Version von «The Pressure Game» war das ominöse Zitat drin.

Aus dem 65-minütigen Gespräch mit Ruefer schafften es nur ein paar wenige Quotes in den Film. Dass in der ersten Version just das problematische Zitat dabei war – aus dem Kontext gerissen –, mag Zufall sein. Vielleicht wollte Regisseur Helbling aber bewusst Öl ins Feuer giessen, zumal sich Ruefer schon seit Jahren an Xhaka reibt. Wäre die erste Version ausgestrahlt worden, hätte das zu einer kompletten Eskalation geführt.

Beim Autorisieren machte Ruefer die Produktionsfirma darauf aufmerksam, dass der ominöse Satz missverstanden werden könne und «off the record» gefallen sei. Daraufhin wird die Aussage aus der Rohschnittversion entfernt.

Regisseur Helbling veröffentlichte am Montagabend eine Stellungnahme. Darin hält er fest, die Kontrollmechanismen hätten «wie vorgesehen gegriffen». Das würde zutreffen, wenn er die missverständliche Aussage gar nie für eine Veröffentlichung vorgesehen hätte. Die belastende Situation, «vor allem für Sascha Ruefer, der diese mediale Vorverurteilung über sich ergehen lassen musste», bedauert er. Angemessen wäre es gewesen, nicht nur zu bedauern, sondern um Entschuldigung zu bitten. Ein ehrliches Exgüsé würde allerdings auch Ruefer gut anstehen, seine Aussage bleibt problematisch.

 

Dieser Text ist zeitgleich bei «Persönlich», dem Onlineportal der Kommunikationsbranche, erschienen. 


Nachtrag vom 13. April 2023:

Die «Wochenzeitung» nimmt sich diesem Thema erneut an. Sie erklärt, wie ihr Redaktor beim Artikel vor Wochenfrist vorgegangen war, wie sie die Sache sieht und weshalb sie die journalistische Sorgfaltspflicht nicht verletzt.

Fotos: getty images & keystone

Auf Tournee mit Fotos und Geschichten

Die Feuertaufe habe ich bestanden. Nach der Première des «Diaabends», notabene in Kriens Downtown, fand das Publikum lobende Worte. Das bedeutet: Die nächsten Monate kann man mich buchen. Zur Klärung: Eine Multimediashow wie bei den Profis von Explora & Co. gibt es nicht. Ich bin nicht Fotograf, sondern Geschichtenerzähler, und es macht mir Freude, andere an meinen Abenteuern teilhaben zu lassen.

Das Angebot richtet sich an Quartiervereine, Serviceclubs, Grossfamilien und dergleichen mehr. Öffentliche Vorführungen sind nicht vorgesehen, weil mir dafür der Aufwand zu gross ist. Der «Diaabend» (ich beharre auf diesen Titel!») dauert zwischen 30 und 45 Minuten – länger geht immer.

Vor Ort braucht es einen tüchtigen Beamer oder Flatscreen, Internet und Tee mit Honig. Ich reise mit dem MacBook und einem HDMI-Kabel an. Ein Honorar will ich keines. Wer stattdessen der Bewegung Courage Civil eine Spende entrichtet, macht etwas fürs eigene Karma und unterstützt einen Verein, der Gutes tut. (In diesem Jahr liegt dessen Fokus beim Klimaschutzgesetz, über das wir im Juni abstimmen werden.)

Interessiert?

Eine DM, ein Telefonanruf oder eine E-Mail reichen zum Start:
mark.balsiger@border-crossing.ch

 👉 Zur Fotogalerie auf meinem privaten Blog, die erkennen lässt, was auf die Gäste zukommt.

«Ich finde es faszinierend, was mit einem so schlichten Gefährt möglich ist»

Seit einer Woche bin ich wieder in der Schweiz. Der Wechsel vom radelnden Nomaden zu einem sesshaften Dasein hat geklappt, der Bürostuhl ist weicher als der Velosattel. Zugleich schwelge ich in Erinnerungen und sortiere Fotos für einen… Achtung: Diavortrag. Zusammen mit Bürokollege Suppino habe ich meinen Biketrip in den Iran Revue passieren lassen. Ein Gespräch über Motivationsprobleme, platte Reifen, Hitze, Glückshormone und Gastfreundschaft.

Bürokollege Suppino: In Georgien kamen plötzlich wieder die Schmerzen am rechten Knie, seit vielen Jahren deine fragile Stelle. Hast du ans Aufhören gedacht?

Mark: Auf jeder Velotour bin ich darauf konditioniert, aufhören zu müssen. Wenn der Schmerz am rechten Knie sich richtig entfaltet, wird jeder Kilometer zur Qual. In Georgien musste ich zwei Tage auf die Zähne beissen, zwei weitere Tage spürte ich den Schmerz noch leicht. Danach war alles vorüber – Glück gehabt.

Aber danach hattest du Motivationsprobleme, nicht?

Gut auf Social Media mitgeschnitten, Suppino! Ich geriet aus dem Rhythmus: Zuerst die Schmerzen, dann der starke Regen, der das Bewältigen des einen Passes in der Nähe zur russischen Grenze verunmöglichte. (Region Mestia – Usguli.) Er glich einer Motocross-Strecke. Das war eine herbe Enttäuschung. Ich verlor die Lust am Radeln und dümpelte vor mich hin.

Wie hast du diese Phase überwunden?

Ich machte ein paar kurze Etappen und gönnte mir mehr Erholung. Zudem kehrte ich zu einer Gastfamilie zurück, bei der es mir sehr wohl war. Das waren Motivations-Booster, und prompt kam die Freude zurück.

Viele Leute verbinden mit Velotouren vor allem Plackerei und Monotonie. Was macht eigentlich der Reiz für dich aus?

(Flüstert.) Es geht um Hormone.

Hä, um Hormone?!

Genau. Velofahren macht glücklich. Ich liebe es, Landschaften und Wolkenbildern zu betrachten. Ich kann jederzeit anhalten und kriege viel mehr mit als im Auto. Ist eine Etappe zu Ende, schütte ich erst recht Glückshormone aus. Meistens hält das für mehrere Stunden. Nach einem Wandertag in den Bergen geschieht dasselbe. Joggerinnen und Langläufer kennen das ja auch.

Allein die Glücksgefühle können es aber nicht sein.

War das eine Frage?

(Etwas verlegen.) Ähem, ja.

Velotouren bedeuten für mich Freiheit. Ich finde es faszinierend, was mit einem so schlichten Gefährt und mit purer Muskelkraft möglich ist. Eines Tages Ende Mai setzte ich mich auf «Yellow Jeff» und das Abenteuer konnte beginnen. Ich nahm mir Zeit, die Natur zu er-fahren. Drei Monate später war ich im Iran. Dazwischen liegen zahllose Erlebnisse und schöne Geschichten, von denen ich viele nie vergessen werde.

Kannst du das präzisieren?

Zum einen war ich, wenn immer möglich, auf schwach befahrenen Strassen unterwegs. Das bedeutete viele Extrakilometer und zusätzliche Höhenmeter. Dafür hatte ich Ruhe. Zum anderen kam ich in Kontakt mit vielen Menschen. Das Leben in den elf Ländern, die ich erfuhr, spielt sich draussen ab. Wenn ich irgendwo auf einem Dorfplatz stoppte, dauerte es nicht lange und schon begann ein Gespräch. Nicht selten mit Händen und Füssen – oder mithilfe des «Nichtwörterbuchs», das mir ein Freund geschenkt hatte. Die Leute waren neugierig, oft wurde ich eingeladen – zum Tee, auf ein paar Früchte oder zum Essen. In Armenien, der Türkei und im Iran übernachtete ich sogar bei Familien zu Hause. Die Gastfreundschaft ist gross und auf diese Weise erlebte ich viel mehr als wenn ich in irgendwelchen Hotels abgestiegen wäre.

Das war aber sicher auch anstrengend?

Natürlich. Wenn du einen Abend lang mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis sprichst, oft mithilfe des Google-Translators, braucht es Geduld und zugleich viel Aufmerksamkeit. In den letzten Wochen fühlte ich mich manchmal emotional erschöpft.

Unterwegs hast du auch alte Bekannte besucht.

Richtig. Ich traf mich in Sarajevo mit ein paar Leuten meiner Crew, mit der ich 1996/1997, also direkt nach dem Krieg in Bosnien, eine unabhängige Radiostation aufgebaut hatte. War das ein Wiedersehen nach 25 Jahren! Aus anderen Phasen meines Lebens kenne ich Menschen in Tiflis und Yerewan, die ich ebenfalls wieder traf.

Wie hast du deine Erlebnisse verarbeitet?

Wie immer schrieb ich Tagebuch, d.h. meistens noch am selben Abend hielt ich das Wichtigste mit dem MacBook fest. Am Folgetag hatte ich während des Radelns Zeit, die jüngsten Erlebnisse in Ruhe durchzugehen. Wenn dann allerdings bereits wieder Neues passierte, war ich manchmal überfordert.

Teheran, als Ziel definiert, hast du nicht erreicht. Wurmt dich das?

Nein, das war eine pragmatische Entscheidung. Kaum war ich in Täbris, einer grossen Stadt im Nordwesten des Irans, rollte eine neue Hitzewelle heran. Wäre ich nach Teheran weitergefahren, hätte sie mich die verbleibenden fünf bis acht Etappen begleitet. Sorry, das wollte ich mir nicht antun. Stattdessen drehte ich nach Westen ab und war kurze Zeit später im Hochland der Osttürkei. Dort war es tagsüber sommerlich warm, in der Nacht kühlte es massiv ab. Für meinen Körper war das erholend. Wegen dieser Schleife machte ich sogar mehr Kilometer als bis nach Teheran.

Du lieferst das Stichwort: Welche Bedeutung haben die 5200 Kilometer und mehr als 60’000 Höhenmeter, die du zurückgelegt hast?

(Lächelt.) Es sind Zahlen. Mir ging es primär darum, unterwegs zu sein und etwas zu erleben, nicht Kilometer «zu fressen». Aber wenn ich eine Landkarte betrachte, denke ich schon: «Potztuusig, bisch fey e chly vürsi choo.»

Die Schweiz ist ein Veloland. Du hättest ja hier im Zickzack eine Monstertour machen können?

Natürlich, aber der Abenteuerfaktor wäre deutlich kleiner gewesen. In fremden Kulturen unterwegs zu sein ist ungleich anspruchsvoller. Zudem habe ich eine grössere Anzahl Pässe gemacht, viele davon bei fast keinem Verkehr. In der Schweiz ist das schon lange kein Vergnügen mehr, die Alpenwelt ist übernutzt. Die unheilvolle Entwicklung setzte etwa in den Neunzigerjahren ein: Immer mehr Leute wollen die Alpen konsumieren, die Tourismusindustrie fördert das kräftig mit noch mehr Infrastruktur. Ich erinnere mich, wie ich vor mehr als 20 Jahren den höchsten Berg Costa Ricas bestiegen habe, den Chirripó. Er liegt in einem grossen Naturschutzgebiet und jeden Tag dürfen nur ein paar wenige Leute auf Anmeldung hinein. Das ist eine Form des Schutzes, die wir in der Schweiz ernsthaft diskutieren sollten.

Kommen wir zurück zu deiner Velotour. Wie hast du eigentlich übernachtet?

Es gab die ganze Palette: Hotels, Gästezimmer, Hostels, Campingplätze, wild zelten und auf Einladung bei Familien zu Hause.

Hat sich «Yellow Jeff» bewährt?

Ich hatte zwei Platten und sonst keinerlei Probleme. Der Göppel ist solid, aber sehr schwer. In seiner aktuellen Zusammensetzung wiegt er 24 Kilogramm. Erstmals nutzte ich eine gefederte Sattelstütze – das hat sich bewährt. Viel weniger Füdleweh!

Kannst du deine lange Tour ans Nordkap mit derjenigen in den Iran vergleichen?

Das ist unmöglich. Der Trip in den hohen Norden war quasi ein Comeback: 20 Jahren lang konnte ich nie länger als zwei oder drei Stunden Velofahren, danach kam der heftige Schmerz im rechten Knie. An Touren war also nicht zu denken. Es hatte im Sommer 2016 oft geregnet, was mich selten störte. Kulturell anspruchsvoll war es nicht, die Menschen in Deutschland, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern sind uns ähnlich. Das war einer der Gründe, weshalb ich dieses Mal in den «Wilden Osten» wollte.

Wie schon auf deiner Tour ans Nordkap warst du allein unterwegs?

Jede Form hat ihre Vor- und Nachteile. Wer allein reist, orientiert sich nach aussen. Das kam mir auf diesem Trip entgegen. Aber natürlich gab es auch lange Abende, an denen ich allein war. Ich finde es wichtig, sich selber ein guter Gesellschafter zu sein.

Was würdest du anders machen?

Ich mag den Konjunktiv grundsätzlich nicht. Was ich beeinflussen oder verbessern kann, mache ich. Ein Evergreen ist das Gepäck: Ich hätte es von Anfang an stärker reduzieren sollen. Das mache ich das nächste Mal besser, und wenn alles Material ausgelegt ist, kommt eine Drittperson und kontrolliert es. Danach gibt’s e kä Birne mehr!

Aha, das nächste Mal. Sind die Pläne schon konkret?

(Grinst.) Nun, mit meiner «bucket list» ist es so eine Sache: Kaum habe ich mir einen Wunsch erfüllt, kommen zwei neue Vorschläge drauf.

Jetzt spann uns nicht länger auf die Folter!

Okay, zuoberst auf der Liste steht: Kanada. Spezifisch British Colombia und Yukon. Von Winnipeg her Richtung Osten soll es auch sehr schön sein. Vielleicht lässt sich beides verbinden. Mein Vater wollte ein halbes Leben lang nach Kanada. Die Wälder faszinierten ihn. Er hat es nie geschafft. Kaum war er frühpensioniert, erlitt er im Forst einen schweren Unfall, blieb wochenlang im Koma und hernach an den Rollstuhl gebunden. Das lehrte mich früh – ich war damals 24 –, von Sachen nicht nur zu reden, sondern sie auch zu machen. Wir haben nur ein Leben!

From Berne to Iran by bike – 50 pictures

Ever since I turned 20 I have got a «bucket list». It keeps me focused on what I really want to do in my life. While cycling to North Cape in summer 2016 the idea of a bike trip to Iran developed and eventually became a plan. I told myself: «One day I will go for it!» This «one day» came at the end of May 2022 as I hopped on «Yellow Jeff» and headed off.

A few days ago I returned to Switzerland.

Behind me:
– 12 countries
– 5200 kilometres
– 62’000 metres in elevation gain

These are just figures. What counts are the experiences, the joys and pains while heading east.

Fews things are as rewarding as bikepacking, #ToTehran2022 is my very own roadmovie. (I missed out on Tehran due to a heatwave and moved on from Tabriz to Türkiye instead.)
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 👉 👉 👉 Click on the first picture and it increases its size. As of then you should move the cursor to the little black button «>» which appears on the right hand side of every picture. Click through and you’ll know why I love bikepacking.

 👉 👉 👉 For the German speakers among you: I published a number of little stories about my trip. For example here. You find all of them in the sidebar on the right hand side. 

Schöner Iran, schwieriger Iran

Zehn Minuten nachdem ich die armenisch-iranische Grenze passiert habe, bin ich schon Multimillionär. Eine Million Rial entspricht etwa drei Schweizer Franken. Ich kriege mehrere dicke Bündel in die Hand gedrückt, und die vielen Banknoten fühlen sich unangenehm an. Ich verteile sie auf alle Gepäckstücke und radle los.

Wenige Minuten später meldet sich der Darm, doch ich habe Glück: Wie durch eine kleine Fügung taucht eine öffentliche Toilette auf. Sie ist sauber, ich übe mich in der Kauertechnik und muss grinsen: «Kaum bin ich im Land der Mullahs angekommen, muss ich schon pfunden!»

Wie ich mir vor dem Häuschen die Hände mit Seife wasche, werde ich von einem Mann in meinem Alter angesprochen. Sein Englisch ist fliessend, er ist neugierig und lädt mich nach Täbris ein, wo er wohnt. «Ich nehme den Weg über die Berge und brauche wohl drei Tage bis dorthin», erkläre ich ihm. Hossein nickt, tippt seine Handynummer in mein Sklavengrätli und fährt mit seinen Angehörigen davon. Schon steht ein Trio vor mir – drei Frauen –, und lädt mich zu sich nach Hause ein. Wieder nach Täbris.

Der chaotisch organisierte Grenzübergang, die schmierigen Geldhändler, der Einkauf von Brot und Tomaten, die Einladungen – ich bin verwirrt und überfordert. Also nichts wie weg in die Berge.

Ich schwinge mich auf «Yellow Jeff», alsbald ist Nordooz, dieser charmefreie Ort an der Grenze, hinter den Hügeln verschwunden. Ich steige ab, tausche die langen Hosen gegen Shorts aus und kurble weiter. Die Landschaft ist karg, die Sonne brennt, das einzige Geräusch, das ich die nächsten Stunden höre, ist mein Schnaufen.

In der Abenddämmerung tauchen die Felder und Berge in verschiedene Farben. Ich setze mich an den Strassenrand und schaue dem Naturspektakel hingerissen zu.

Auf dem Hof einer Bauernfamilie darf ich campieren. Der Vater zeigt mir die Wasserquelle und die Toilette, dann stelle ich das Zelt auf, währenddessen die Kinder im Gras sitzen und mir aufmerksam zuschauen. Als ich am Essen bin, kommt der Vater vorbei und bringt mir frisches Gemüse.

Ich liege im Schlafsack – es ist inzwischen Nacht geworden –, und will den Tag Revue passieren lassen. Da huscht plötzlich ein Lichtkegel durchs Dunkel. Der älteste Junge steht mit Taschenlampe und Handy als Übersetzungshilfe vor meinem Zelt. Er will sich mit mir unterhalten, ich möchte schlafen. Wir finden einen Kompromiss.

Achtzehn Stunden später rolle ich im Schritttempo durch Arzil, ein anderes Dorf in den Bergen. Es liegt da wie ausgestorben, die wenigen Geschäfte sind verriegelt, ich finde keinen einladenden Platz zum Zelten. «Eine Null-Nummer», brumme ich und fahre enttäuscht weiter.

Etwas ausserhalb sitzen ein paar Männer im Schatten der Bäume und trinken Tee. Sie winken mich herbei. Ich setze mich zu ihnen auf die Decke, kriege Früchte und später ein leckeres Znacht. Meine Gastgeber sind sehr aufmerksam: Nachdem ich den Zucker im Tee mit dem Griff der Gabel gerührt habe, stecken sie mir beim Nachschenken diskret einen Löffel zu. Sie selber brauchen keinen, weil sie eine andere Technik anwenden: Den Würfel klemmen sie zwischen die Zähne und setzen dann das Teeglas an. So rinnt das Getränk bei jedem Schluck leicht gesüsst die Kehle herunter.

Mithilfe einer App reden und diskutieren wir stundenlang. Sie stürzt immer mal wieder ab oder übersetzt offensichtlich falsch, was uns zuweilen zum Lachen bringt. Die Atmosphäre ist entspannt, mir ist es wohl in dieser grünen Oase, die harten Stunden bergauf sind vergessen. Die Infrastruktur ist schlicht, aber funktional, hinter den Bäumen rauscht ein Bach talwärts. Junis und seine Frau verbringen jeweils den Sommer hier, weil das Klima viel angenehmer ist als in der Grossstadt. Hier bewirten sie Mitglieder ihrer weitverzweigten Sippe und Gäste wie mich.

«You are ivited» – immer wieder 

Wenn ich über die Strassen brettere, halten gelegentlich Autos, und ich kriege Früchte, Gebäck oder Getränke geschenkt. Die Übergaben geschehen ratzfatz, zuweilen gibt es noch schnell ein Foto – «Instagram? Instagram!» –, nach zwei Minuten ist der Spuck vorbei. In Restaurants passiert mir dasselbe – «you are invited!», zuweilen auch in den kleinen Geschäften, wenn ich ein Getränk kaufen will. Dazu kommen die Einladungen zum Essen und Übernachten.

Die Menschen in der nordwestlichen Ecke des Irans sind ausgesprochen aufmerksam und gastfreundlich, egal ob sie Türken, Kurdinnen, Perser oder Aserbaidschanerinnen sind. Gastfreundschaft ist etwas Schönes, in der Schweiz sollten wir uns eine Scheibe davon abschneiden.

Trotz spektakulärer Natur und der grossen Empathie der Menschen war ich meistens bedrückt, weil die Leute bedrückt sind. Eine schwere Decke liegt auf ihnen, sie leiden. Der Vielvölkerstaat ist ein Land in Moll. Wenn immer wir ins Gespräch kamen, stellten sie eine Frage mit Sicherheit: «Wie denkt ihr über uns?» Die Eindringlichkeit, wie diese Frage adressiert wurde, erlebte ich bislang nur im Kolumbien der Neunzigerjahre, das damals im Würgegriff von Guerilla und Paramilitärs war.

Natürlich redeten wir in überschaubaren Runden über Politik. Die Leute haben sich arrangiert mit Überwachung, Einschränkungen und dem «Filter», wie sie es nennen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nach der islamischen Revolution von 1979 zur Welt gekommen, sie kennt nur dieses System. Die reiferen Semester mussten schon das repressive Regime des Schahs erdulden, es war keinen Deut besser. Viele Menschen hadern mit ihrer Situation, so meine subjektive Einschätzung.

Nehmen wir das Beispiel von Yusuf, wie er hier heissen soll. Er ist 31 Jahre alt, Kurde und promovierter Agrarwissenschaftler. Jetzt verkauft er im Dorfladen seiner Eltern Zwiebeln, Waschmittel und Schleckzeugs. Er ist frustriert, möchte etwas erreichen in seinem Leben und denkt an Flucht. Hundertausende haben sie schon hinter sich, der Braindrain ist enorm. Ein Freund sei im Mittelmeer ertrunken, erzählt Yusuf. Für einen Moment wird sein Blick leer.

Ich empfehle ihm, intensiv Englisch zu lernen und sich dann im Netz nach einem Job aus seinem Bereich zu bemühen, am besten in den Niederlanden. Dort hat die Landwirtschaft einen höheren Stellenwert als in anderen Ländern Europas, zugleich sind sie innovativ und offener.

Wieder auf dem Fahrrad wird mir bewusst, wie hilflos mein Ratschlag war. Das Leben ist verdammt beschissen, wenn man auf seiner Schattenseite geboren wurde.

A little language lesson with Julia

Julia ist neun Jahre alt. Ich habe sie in Nikšič (phonetisch: Nikschitsch), einer Stadt in Montenegro, kennengelernt. Ihre Eltern führen dort ein kleines Hostel, das Charme und Ambiente hat.

Das Mädchen ist neu- und wissbegierig, keck und selbstbewusst. Als ich mit dem Fahrrad ankam, war sie die Erste, die mich begrüsste – per Handschlag und auf Englisch.

Wir verstanden uns auf Anhieb. Julia mag Sprachen, so wie ich auch. Also setzten wir uns in die Küche und machten eine kleine Lektion. So repetierten wir etwa zusammen die Wochentage. Zunächst auf Englisch für sie, dann auf Serbisch für mich. Beide kamen wir einmal ins Stolpern.

Ihr Vater filmte uns und hätte eigentlich auf Deutsch ergänzen sollen, getraute sich dann aber doch nicht.

Beim Abschied sagte mir Julia, dass sie vom nächsten Jahr an Deutsch lernen will. Kinder sind oft sprunghaft, Julia traue ich zu, dass sie sich dahinter klemmt.

PS:
Ja, das ist ein «Jöö»-Video, und ich bin mit dem Thema Kinderbilder und -videos vertraut. Julia und ihre Eltern haben ausdrücklich zugestimmt, dass es hier hochgeladen wird.

Die Idee begann in einer Bibliothek zu reifen

Als ich die Anwaltskanzlei verlasse, klebt mir das Hemd am Leib. Die Luft flirrt an diesem heissen Tag, aber ich gehe wie auf Wolken. Im Garten des Restaurants «Gotthard» in Brugg (AG) bestelle ich ein Glas Weisswein und fühle mich grossartig. Ein ehemaliger Pfadikollege hat den ganzen Papierkram für mich erledigt, jetzt bin ich Inhaber einer Kommunikationsfirma. Das war heute vor 20 Jahren. Der Tagebucheintrag ist knapp: «Die Chancen stehen bei 50 Prozent. Pack sie!!!»

Diese 20 Jahre waren manchmal Rock’n’Roll und manchmal Blues; längst nicht alles entwickelte sich so, wie ich wollte. Manchmal hatten wir zu wenig Büez, manchmal zu viel, Work & Life gerieten zuweilen aus der Balance, in den ersten Jahren getraute ich mich nicht, Ferien zu machen. Die langen Velotouren ans Nordkap (2016) und in den Iran (aktuell, noch bis Ende September) sind letztlich Kompensationen dafür. Einmal spielte ich gar mit dem Gedanken, meine Firma zu verkaufen, um endlich einen eigenen Roman schreiben zu können.

Wenn ich auf 20 Jahre Border Crossing zurückblicke, bin ich erfüllt von grosser Dankbarkeit, Freude und auch etwas Stolz. Die Idee der Selbständigkeit begann in der Bibliothek der Universität Cardiff zu reifen. Dort verbrachte ich viele Abende und zuweilen halbe Nächte. (Die Bibliotheken der britischen Unis sind rund um die Uhr zugänglich.) Sie liess mich nicht mehr los.

Würde ich, nach all den Erfahrungen und Fehlern, die ich gemacht habe, den Schritt in die Selbständigkeit wieder wagen? Auf jeden Fall.

Das eigene Ding durchzuziehen beflügelt und manchmal sorgt es für schlaflose Nächte. Beides braucht es. Als Kleinunternehmer bin ich mutig und unkonventionell, in finanzieller Hinsicht allerdings konservativ. So blieb das Aktienkapital immer unangetastet – für schwierige Zeiten. In der Schweiz gibt es prozentual weniger Selbständige als anderswo, das Sicherheitsdenken ist gross, die Angst vor dem Scheitern noch grösser. Das ist schade.

Meilensteine waren die drei Bücher, die ich schrieb, und das vierte, das ich 2020 während der Coronazeit herausgab. Eine Herzensangelegenheit war mir die Rettung der Tageszeitung «Der Bund», die wir 2008/2009 zu unserer Aufgabe machten, und die Rettung des Politforums Käfigturm in Bern, die ich 2015/2016 zusammen mit einem Berufskollegen initiierte und vorantrieb. Beide Projekte waren pro bono.

Zu derselben Kategorie, allerdings bezahlt, zählt 2017/2018 der Kampf gegen «No Billag», der episch lange dauerte. Dass dieselben traurigen Figuren bereits ein zweites Mal mit einer vergleichbarer Volksinitiative kommen, zeigt, was sie von klaren Volksentscheiden halten. Ihre Absicht ist klar: Nach der Halbierung des öffentlichen Rundfunks wollen sie ihn in einem zweiten Schritt ganz zerstören. Der Widerstand gegen «No Nillag 2» ist bereits gebündelt: Im letzten Winter habe ich zusammen mit der Bewegung Courage Civil die Allianz «Pro Medienvielfalt» lanciert. Sie wird zum Bollwerk gegen diese brandgefährlichen Attacke aus der libertären Ecke.

20 Jahre Selbständigkeit sind wie im Flug vergangen. Menschen, die mir wichtig sind, haben sie möglich gemacht.
– 🙏  Mein Dank geht an Beatrice, Manuela, Mathias, Thomas und Aline, die in meiner Firma Spuren hinterlassen haben. Sie haben kritisch, initiativ und mit Schwung mitgewirkt, nie musste ich sie antreiben.

– 🙏  Ich danke den Gspändli aus unserem Netzwerk, mit denen wir seit Jahren eng zusammenarbeiten. Mit ihnen läuft es rund, sie bringen Ideen und Inputs ein, und deshalb werden unsere «Produkte» schliesslich besser. Dieser Kreis vergrössert an Cracks vergrössert sich stetig.

– 🙏  Sie kamen mit einer Herausforderung auf uns zu und wurden zu Auftraggeberinnen und Auftraggeber. Viele von ihnen haben das wiederholt getan. Ihnen danke ich herzlich für das Vertrauen, das partnerschaftliche Kneten an einer Aufgabe und die Honorare.

Im 21. Jahr der Border Crossing AG ist alles im Fluss und ich bin ab dem 1. Oktober wieder im Büro. Was bleibt, ist unser Credo: Knowhow, Herzblut, Pfiff.

Unsere Disziplinen sind Medienarbeit, Krisenkommunikation, strategische Kommunikation und Auftrittskompetenz/Rhetorik. Gelegentlich machen wir auch Abstimmungs- und Wahlkampagnen. Ein Drittel der Aufträge stammt aus dem politischen Umfeld, Referenzen gibt’s hier. Dieser Werbespot musste zur Feier des Tages sein!

Und wie feiere ich dieses 20-Jahr-Jubiläum? Allein und ganz still, irgendwo in den Bergen Armeniens, mit dem Velo, aber ohne Weisswein. Ich werde mich heute für eine Stunde in den Schatten eines Baumes setzen und auf die Abenteuer meines «Budelis» zurückschauen.

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Die Bakschisch-«Nummer» musste ja einmal kommen

Kein Lüftchen weht, kein Hund liegt faul im Schatten, nichts bewegt sich. Stille. Im Schritttempo rolle ich auf den Schlagbaum zu, steige ab und stosse «Yellow Jeff» bis zum grauen Häuschen. Die Scheibe ist verspiegelt, ich sehe nichts, also warte ich und beginne, mich auf eine längere Pause einzustellen.

Da plötzlich blafft eine Männerstimme aus dem Häuschen: «What’s this?» Ich erschrecke. Eine Hand wird sichtbar. Sie zeigt auf den Holzstecken, den ich über der gelben Gepäcktasche angeschnallt habe.

«I defend myself with this wooden stick against aggressive dogs», antworte ich, immer noch etwas verdattert. Tatsächlich habe ich zu Beginn meiner Velotour das Hervorziehen des Steckens geübt. Wenn mich Hunde attackieren, muss es schnell gehen. In der Regel reicht eine drohende Geste.

Der Grenzbeamte scheint zufrieden zu sein mit meiner Antwort. Dann stösst er nach: «Do you have a licence to ride your bicycle?» Ich vermute, dass er die Velonummer meint und schüttle den Kopf. «Not anymore. The politicians in Switzerland abolished this system.»

Jetzt wird seine Stimme wieder laut und schneidend: «In Bulgaria you need to have a licence for your bicycle!»

«Irgendeinmal musste die Bakschisch-Nummer ja kommen», denke ich verdrossen und presse die Lippen zusammen. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, wieviel ich zu bezahlen bereit wäre, um die Grenze passieren zu dürfen.

Der Grenzer hat mich in der Hand: Wenn er will, bleibe ich auf der nordmazedonischen Seite, bis seine Schicht vorbei ist. Oder ich schmiere ihn und seinen Kollegen, der trotz des Ventilators schwitzt.

«The licence is 100 Swiss Francs!» Der Zöllner hat inzwischen das Fenster geöffnet.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Da zwinkert er mit den Augen.

Ich zwinkere zurück: «Cash or creditcard?»

Wir müssen beide lachen.

Ein Wort gibt das andere, und wir verstehen uns prächtig. Er hat nichts Besseres zu tun, als mit mir zu plaudern, ich muss bloss nach Petritsch, der ersten Stadt in Bulgarien, radeln. Der Beamte erzählt, dass seine 23-jährige Tochter eben in die Schweiz gereist sei, um dort während der Sommersaison in einem Restaurant zu arbeiten.

Dann zieht er ein Blatt Papier hervor und beginnt, ein Krokki zu zeichnen: den Weg nach Rupite, etwa 15 Kilometer von Petrisch entfernt. Dort habe es heisse Quellen, ich müsse sie unbedingt ausprobieren, das Wasser sei heilend, erklärt er. Er kritzelt weitere Details aufs Papier und wiederholt: ich müsse dorthin!

«Why do you want me to go there so badly?», frage ich. Dann schnuppere ich übertrieben hörbar an meinem verschwitzten Leibchen. «Do I smell that strong?»

Er nickt.

Wieder müssen wir beide lachen. Ich packe das Krokki in die Lenkertasche, «fäustle» mit dem Grenzer und trete in die Pedale.

PS:
Abends bin ich tatsächlich nach Rupite gefahren und habe mich 20 Minuten ins warm-heilende Wasser gelegt und dazu ein kaltes Bier getrunken. Das Bad tat gut, bloss: Nach der morgigen Etappe werde ich wieder stinken.