Die Bakschisch-«Nummer» musste ja einmal kommen

Kein Lüftchen weht, kein Hund liegt faul im Schatten, nichts bewegt sich. Stille. Im Schritttempo rolle ich auf den Schlagbaum zu, steige ab und stosse «Yellow Jeff» bis zum grauen Häuschen. Die Scheibe ist verspiegelt, ich sehe nichts, also warte ich und beginne, mich auf eine längere Pause einzustellen.

Da plötzlich blafft eine Männerstimme aus dem Häuschen: «What’s this?» Ich erschrecke. Eine Hand wird sichtbar. Sie zeigt auf den Holzstecken, den ich über der gelben Gepäcktasche angeschnallt habe.

«I defend myself with this wooden stick against aggressive dogs», antworte ich, immer noch etwas verdattert. Tatsächlich habe ich zu Beginn meiner Velotour das Hervorziehen des Steckens geübt. Wenn mich Hunde attackieren, muss es schnell gehen. In der Regel reicht eine drohende Geste.

Der Grenzbeamte scheint zufrieden zu sein mit meiner Antwort. Dann stösst er nach: «Do you have a licence to ride your bicycle?» Ich vermute, dass er die Velonummer meint und schüttle den Kopf. «Not anymore. The politicians in Switzerland abolished this system.»

Jetzt wird seine Stimme wieder laut und schneidend: «In Bulgaria you need to have a licence for your bicycle!»

«Irgendeinmal musste die Bakschisch-Nummer ja kommen», denke ich verdrossen und presse die Lippen zusammen. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, wieviel ich zu bezahlen bereit wäre, um die Grenze passieren zu dürfen.

Der Grenzer hat mich in der Hand: Wenn er will, bleibe ich auf der nordmazedonischen Seite, bis seine Schicht vorbei ist. Oder ich schmiere ihn und seinen Kollegen, der trotz des Ventilators schwitzt.

«The licence is 100 Swiss Francs!» Der Zöllner hat inzwischen das Fenster geöffnet.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Da zwinkert er mit den Augen.

Ich zwinkere zurück: «Cash or creditcard?»

Wir müssen beide lachen.

Ein Wort gibt das andere, und wir verstehen uns prächtig. Er hat nichts Besseres zu tun, als mit mir zu plaudern, ich muss bloss nach Petritsch, der ersten Stadt in Bulgarien, radeln. Der Beamte erzählt, dass seine 23-jährige Tochter eben in die Schweiz gereist sei, um dort während der Sommersaison in einem Restaurant zu arbeiten.

Dann zieht er ein Blatt Papier hervor und beginnt, ein Krokki zu zeichnen: den Weg nach Rupite, etwa 15 Kilometer von Petrisch entfernt. Dort habe es heisse Quellen, ich müsse sie unbedingt ausprobieren, das Wasser sei heilend, erklärt er. Er kritzelt weitere Details aufs Papier und wiederholt: ich müsse dorthin!

«Why do you want me to go there so badly?», frage ich. Dann schnuppere ich übertrieben hörbar an meinem verschwitzten Leibchen. «Do I smell that strong?»

Er nickt.

Wieder müssen wir beide lachen. Ich packe das Krokki in die Lenkertasche, «fäustle» mit dem Grenzer und trete in die Pedale.

PS:
Abends bin ich tatsächlich nach Rupite gefahren und habe mich 20 Minuten ins warm-heilende Wasser gelegt und dazu ein kaltes Bier getrunken. Das Bad tat gut, bloss: Nach der morgigen Etappe werde ich wieder stinken.

Carlito und Carmela in der Kartonkiste

Auf der Passhöhe mache ich Rast. In den Bergen Bulgariens gibt es eine Vielzahl von Hütten aus Holz, die mit robusten Tischen, Bänken und einer Feuerstelle ausgerüstet sind. Die meisten sind sauber und fliessendes Wasser haben sie auch. Hier können Touristinnen und Lastwagenfahrer picknicken oder eine Siesta machen.

Es ist kühl geworden im Wald, und zum ersten Mal auf dieser Tour musste ich die Ärmlinge anziehen. Nachdem ich «Yellow Jeff» parkiert habe, schlüpfe ich in eine Trainerjacke und lege mein Mittagessen auf einer Serviette aus. Es gibt dunkles Brot, Wurst, eine Banane, Aprikosen und Pflaumen.

Ich habe Hunger und lange zu, während die mächtigen Baumkronen sich leise im Wind wiegen. Plötzlich höre ich ein leises Rascheln aus der Ecke. Dort steht eine Kartonkiste mit der Aufschrift «Chio». Sie war vermutlich improvisiert für Abfall gedacht gewesen, bloss liegt dieser frei verstreut um die Kiste herum.

Da raschelt es wieder aus der Kiste, und ich höre ein Geräusch, das ich nicht zuordnen kann. Ein kleines spitzes Ohr mit schwarzen Haaren kommt zum Vorschein.

So beginnen Horrorfilme.

Ich zwicke mich kräftig in den Arm. «Autsch!» Das haarige Ohr ist immer noch dort.

Langsam stehe ich auf und nähere mich vorsichtig der Kiste. Da schnellt ein Katzenkopf aus der Kiste und das Tier faucht bedrohlich. Ich erschrecke und weiche zurück. Die Katze hat einen schwarzen Kopf und eine weisse Schnauze. Sie lässt keine Zweifel aufkommen, wo die Grenze für Fremde ist. Ich bleibe stehen, bewege mich nicht und atme flach.

Da taucht ein zweiter Katzenkopf auf, dann ein dritter. Die Neugierde der beiden Kätzchen war grösser, sie wollen auch sehen, was ihre Mutter enerviert. Nach ein paar Sekunden verlieren sie das Interesse und verknäulen sich wieder ineinander.

Ich setze mich und esse weiter. Die Katzenmutter beginnt, mit ihren Jungen zu spielen. Dazwischen leckt sie sie mit ihrer rauen Zunge fürsorglich ab. Irgendeinmal hat sie genug von den Kleinen, die nicht müde werden, sich zu balgen, und richtet sich auf. Mit einem eleganten Satz lässt sie die Kartonkiste hinter sich. Dann dehnt und streckt sie sich ausgiebig. Grazil und ohne Scheu läuft sie an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten und erkundet die nähere Umgebung. Ganz offensichtlich geht sie davon aus, dass ich keine Gefahr mehr für ihre Jungen darstelle.

Kaum ist die Katzenmutter verschwunden, setze ich mich neben die Kartonkiste und kraule die Kleinen. Beide sind gut genährt und unendlich knuffig. Ich taufe sie Carlito und Carmela.

Carlito ist schwarz, nur Schnauze und Halspartie sind weiss. Er versucht immer wieder, auf die Hinterbeine zu stehen, verliert aber das Gleichgewicht und purzelt auf die Seite. Carmela hat ein weisses Fell mit einigen schwarzen Flecken. Sie findet es lustiger, auf ihren Bruder zu klettern und ihm in den Rücken zu beissen. Meine Hände, die abwechselnd mit den Kätzchen spielen und sie dann wieder streicheln, finden sie als Abwechslung ganz okay.

Was hier vor ein paar Stunden oder Tagen passiert ist, liegt auf der Hand: In beide Richtungen der Passstrasse gibt es auf 25 Kilometer keine Häuser, so weit weg entfernt sich keine Katzenmutter zum Werfen. Das Trio wurde ausgesetzt.

Es wiederholt sich vorab zu Beginn der Sommerferien: Haustiere werden den Menschen überdrüssig und schliesslich auf Autobahnraststätten oder im Wald kaltherzig ausgesetzt. Laut dem Schweizer Tierschutz werden jedes Jahr etwa 20’000 wieder aufgegriffen und in Tierheime oder Aufnahmestationen gebracht. Wie viele Tiere vorher umkommen oder verwildern, ist nicht bekannt.

PS:
– Natürlich dachte ich darüber nach, die Katzenfamilie bis ins nächste Dorf, zu einer Bauernfamilie, zu bringen. In einer Sacoche hätte ich genug Platz schaffen können. Die Kleinen hätte ich problemlos einpacken können, die Mutter hingegen hätte sich vermutlich heftig gewehrt.

– Die Raststätte, die ich hier zeige, ist nicht identisch mit derjenigen des «Tatorts», zwischen den beiden liegen etwa zehn Kilometer.

– Auf Instagram folgte ich während Jahren einem Bikepacker aus Belgien auf seiner Weltreise. Unterwegs war ein Kaninchen so zutraulich geworden, dass er es schliesslich mitnahm. Das Duo wurde unzertrennlich und das Kaninchen überall, wo der Radler stoppte, mit viel Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten eingedeckt.