Die Gretchenfrage lautet: Was ist uns Journalismus wert?

Die Libertären wetzen ihre Messer schon lange. Sie wollen mit ihrer Halbierungsinitiative die verhasste SRG ausbluten lassen. Gestern haben sie einen Teilerfolg errungen (hier solid zusammengefasst). Der Bundesrat senkt die Medienabgabe schon wieder, zudem werden neu 80 statt wie bisher 75 Prozent aller Firmen von der Serafe-Gebühr befreit.

Ein Privathaushalt bezahlt künftig noch 300 statt 335 Franken pro Jahr. Pro Monat bleiben also 3 Franken mehr im Portemonnaie. Mit Verlaub, das als Entlastung anzupreisen, ist eine Lachnummer!

Über die Halbierungsinitiative, welche die Gebühren auf 200 Franken reduzieren will, stimmen wir voraussichtlich im Jahr 2026 ab. Im Parlament regen sich aber bereits mehrere Figuren, die ihr eigenes Süppchen kochen wollen, konkret: Es wird Gegenvorschläge geben.

335 Franken, 300 Franken, 200 Franken, 280 Franken – es geht schon seit Monaten fast ausschliesslich nur um Preisschilder. Das ist erbärmlich. Es bräuchte eine Debatte über den medialen Service public. Es geht um Fragen wie: Was ist uns Journalismus wert?

Für eine solche Debatte bräuchte es Basiswissen. Ich liefere fünf Punkte:

– Die privaten Medien in der Schweiz haben ein massives Finanzierungsproblem. Inzwischen fliessen jedes Jahr 2 Milliarden Franken an Werbegeld zu den Tech-Giganten wie Google und Meta (Facebook, Instagram). Die Konsequenzen: Abbau, Ausdünnung des Angebots, Verflachung.

– In den letzten 20 Jahren sind in der Schweiz rund 70 Medientitel verschwunden. Das führt zu einer Verarmung. Natürlich gab es in derselben Zeitspanne auch Neugründungen, doch von ihnen schafften bislang kein halbes Dutzend den «Break Even», also eine ausgeglichene Rechnung. Die Erkenntnis: Journalismus ist kein Geschäftsmodell mehr. Es braucht ein starkes Medienhaus, das gebührenfinanziert ein breites Angebot liefert, und zwar überall dort, wo die Menschen sind, also auch online und auf Social Media.

– Ein Privathaushalt gibt laut Bundesamt für Statistik im Durchschnitt jährlich 3168 Franken aus für Medien. Darunter fallen Zeitungen, Bücher, Streaming-Dienste wie Spotify, usw. Die Medienabgabe beträgt 335 Franken. Mit anderen Worten: Die Serafe-Gebühren machen nicht einmal 12 Prozent der Gesamtausgaben für Medien aus.

– Die SRG ist die grösste Kulturproduzentin im Land. Im Jahr 2023 unterstützte sie rund 190 Film- und Serienprojekte, wie zum Beispiel «Davos 1917». Viele von ihnen hätten sonst nicht realisiert werden können. Kultur sorgt für Reibung, Emotionen, Wissen, Verständnis für andere, Zusammenhalt. Sie hat einen unschätzbaren Wert.

Die allermeisten Produktionen rechnen sich nicht. Private Medien hingegen realisieren nur, was sich rechnet, sonst könnten sie nicht überleben. In der kleinräumigen Deutschschweiz lassen sich Serien wie «Der Bachelor», «Die Bachelorette» und «Bauer ledig sucht» am Markt finanzieren.

– Seit nunmehr 20 Jahren wächst bei den Medienhäusern der Online-Bereich stetig. Die Transformation ist in vollem Gang. Die BBC, die von Grossbritannien aus weltweit journalistische Standards setzt, baut sich so um, dass ab 2030 die allermeisten Angebote nicht mehr linear, sondern nur noch on demand, vorab mit Apps, ausgespielt werden.

Medien, die die Transformation nicht schaffen und ihre Angebot nicht attraktiv im Netz präsentieren, sind in ein paar Jahren tot. Das gilt auch für die SRG. Schon jetzt sind dem öffentlichen Medienhaus enge Grenzen gesetzt, wenn es um die Präsenz im Netz geht. Beiträge ohne Bezug zu Radio- oder Fernsehsendungen dürfen beispielsweise nicht länger als 1000 Zeichen sein. Das entspricht zwei kurzen Abschnitten.

Jede weitere Einschränkung schwächt die SRG. Dass sich die privaten Medien ohne Konkurrenz der SRG im Netz besser entwickeln würden, ist eine Behauptung. Erhebungen in anderen Ländern zeigen, dass die privaten Medien von einem starken gebührenfinanzierten Anbieter profitieren. Die «böses Feinde» sind die Streamingdienste, die die Leute im grossen Stil an sich binden, und die Tech-Giganten im Silicon Valley, denen das Werbegeld zufliesst.

Wenn dich diese Argumente überzeugen, ist das der richtige Zeitpunkt, um jetzt Teil der Allianz Pro Medienvielfalt zu werden. Die Community wächst – hier lang:

Plötzlich zeigt der Bundesrat Führungsstärke

Die Corona-Welle überrollt die Schweiz, viele Menschen reagieren verunsichert. Der Bundesrat steht vor seiner grössten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg: Er muss das Land durch diese schwierige Zeit navigieren und die Leute mitnehmen. Die Kommunikation ist ihm bislang überzeugend gelungen. In der Krise zeigt die Regierung plötzlich Führungsstärke.

Die erste Welle der BAG-Informationskampagne ist kein Wurf, aber sie knallt – fürs erste in Gelb. An der Südgrenze werden Ende Februar an Bahnhöfen und Tankstellen 200’000 Flyer verteilt mit den Piktogrammen «Händewaschen», «Abstand halten» und «zu Hause bleiben». In derselben Phase treten Gesundheitsminister Alain Berset und Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein erstes Mal vor die Medien. Sie verkünden die «besondere Lage» gemäss Epidemiengesetz. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen sind ab sofort verboten. Ein Murren geht durchs Land, aber das Verständnis für die Einschränkung überwiegt.

Bis zum 20. März folgen vier weitere Medienkonferenzen, der Bundesrat ist jeweils mit bis zu vier Mitgliedern vertreten. Jedes Mal werden weitergehende Massnahmen verfügt. Als er am 16. März die «ausserordentliche Lage» bekanntgibt, spürt man am Ende vieler Sätze ein Ausrufezeichen. Es ist ein eindringlicher Appell an die Nation, und er wird verstanden. In normalen Zeiten hätte man die Landesväter und -mütter als schulmeisterlich kritisiert. In dieser Situation lauten die Prädikate: klar und führungsstark.

Am nächsten Abend, wenige Sekunden vor dem «Echo der Zeit» von Radio SRF, ertönt unverhofft eine monotone Stimme: «Empfehlung des Bundesrats: Bleiben sie zu Hause! Insbesondere wenn sie alt oder krank sind!» Würden draussen noch die Sirenen heulen, wähnte man sich im Krieg. Dieselbe Information läuft seither vor jedem Nachrichtenbulletin und auch während Spielfilmen am Fernsehen wird sie eingeblendet.

Google, Twitter und Instagram installieren in Absprache mit den Behörden ein Aufklärungstool, das User nach dem Eintippen von Schlüsselwörtern rund um das Coronavirus direkt zu den Informationen des BAG weiterleitet. Vergleichbares geschieht auf Facebook und Youtube, dort ist allerdings die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Lead. In der Informationskampagne des BAG wechselt die Signalfarbe Anfang März von Gelb auf Rot. Die Werbemittel haben nun sechs Piktogramme und werden im ganzen Land massiert eingesetzt.

Der Bundesrat informiert die Medien stetig und nutzt dabei auch seinen Youtube-Kanal, um die Bevölkerung direkt zu erreichen. Das wirkt vertrauensbildend. Bei seinen Auftritten wirken die Regierungsmitglieder entschlossen, sie kommunizieren klar und überzeugend. Keine Zweifel, die Landesregierung hat das Heft in die Hand genommen, führt top-down und setzt sich durch.

In einem durch und durch föderalistischen Land passt das auch jetzt nicht allen. Wenn es sein muss, werden sogar Kantone zurückgepfiffen, wie jüngst das Tessin und Uri oder die Gemeinde Bagnes (VS). Dass die Websites der Bundesverwaltung einmal während mehreren Stunden «down» waren – vergessen. Dass Bundeskanzler André Simonazzi Twitter nicht geschickter nutzt – kein Thema. Dass das BAG laut einer Recherche der «Republik» mit einem veralteten Meldesystem arbeitet – eine Randnotiz.

Es gibt keine Kluft zwischen der Politik und dem Volk

Bislang hat die Regierung mit viel Fingerspitzengefühl antizipiert, was verhältnismässig ist. Sehr heikel war die Schliessung der Schulen. Diese Entscheidung wurde nicht auf der Basis von Studien getroffen, sondern war nur politisch motiviert. Weil die meisten Nachbarländer ihre Schulen bereits geschlossen hatten, war der Druck zu gross geworden. Ein anderes Beispiel ist der Ruf nach einer Ausgangssperre, der vor allem in der Westschweiz laut wurde. Der Bundesrat blieb bisher standhaft, verbot aber Ansammlungen von mehr als fünf Personen. Insgesamt zeigt der Bundesrat bislang das, was er vorab im Europadossier seit Jahren vermissen lässt: Führungsstärke.

Einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren: «Too little, too late!» Ihre Aussagen multiplizieren sich in den sozialen Medien. Aus epidemiologischer Sicht haben sie vielleicht recht. Aber nehmen wir einmal an, die Landesregierung hätte den «Lock Down» bereits Ende Februar verfügt. Weite Teile der Bevölkerung hätten die einschneidenden Massnahmen weder verstanden noch mitgetragen, von den Arbeitgebern ganz zu schweigen.

Autoritäre Staaten setzen ihre Verbote konsequent durch. Die Menschen in der Schweiz hingegen erstritten sich ihre Kultur der Eigenverantwortung und ihre Freiheitsrechte. Eine schnelle und massive Veränderung des individuellen Verhaltens ist nur möglich, wenn die Leute sie akzeptieren. Dieser Prozess wird beschleunigt, wenn der entscheidende Akteur eine hohe Glaubwürdigkeit hat. Hierzu erreicht der Bundesrat bei Umfragen seit Langem gute Werte. Noch wichtiger ist aber ein anderer Faktor: Es gibt keine Kluft zwischen der Politik und dem Volk. Die allermeisten Menschen in unserem Land verstehen sich als Teil des Staates.

Seit sich die Corona-Krise zugespitzt hat, findet in Bern täglich ein «Point de Presse» statt. Dort geben Schlüsselpersonen aus den einzelnen Departementen erschöpfend Auskunft, was wo läuft. Proaktiv zu informieren ist weise, weil so das enorme Interesse der Medien gebündelt werden kann. Zugleich verschaffen sich die Beteiligten wieder etwas Luft für andere Arbeiten.

Einen Riesenjob macht Bundesrat Berset, und man sieht ihm die Nachtübungen an. Über das Wochenende lancierte er auf seinem Instagram-Profil die «So-schützen-wir-uns»-Challenge und forderte Roger Federer, Christa Rigozzi und Stress heraus – drei populäre Stars in den drei grossen Sprachregionen. Sie zückten ihre Smartphones und multiplizierten in eigenen Worten die Botschaft. Die Aktion zog sofort weitere Kreise, längst auch auf Twitter.

Die wichtigste Figur bleibt allerdings Daniel Koch (Bild). Der ausgebildete Arzt aus dem BAG ist die Ruhe selbst. Bei den Medienkonferenzen hört er sich die Fragen geduldig an und gibt dann professionell und konzis Antwort. Manchmal scheint sein Kopf im etwas zu grossen Anzug zu verschwinden. Er könnte ein Bruder des famosen US-Schauspielers John Malkovich sein und lässt auch mal seinen trockenen Humor aufblitzen. Auf die Frage eines Journalisten, ob er ihm den Konjunktiv erklären könne, den der Pharmakonzern Roche bezüglich neuer Corona-Tests verwendet habe, entgegnet er mit seiner sonoren Stimme: «Nein, ich bin nicht Sprachwissenschaftler, deshalb kann ich ihnen den Konjunktiv nicht erklären.» Die Sequenz ging viral, Koch hat Kultpotenzial. Es würde nicht überraschen, wenn auf Facebook plötzlich Fan-Seiten auftauchten, die fordern: «Koch 4 President».


Dieser Artikel ist auf Anfrage der «Medienwoche» entstanden und wurde dort zuerst publiziert.

Disclaimer: Der Autor hat keine Mandate bei der Bundesverwaltung.

Auge in Auge mit dem Justizminister

Mittwochmorgen. Irgendwoher erklingen sieben Glockenschläge durch das Halbdunkel. Ich radle gut gelaunt und in gemächlichem Tempo zur Arbeit. Linker Hand der Bundesplatz, rechts das legendäre „Café Federal“.

Vor der Berner Kantonalbank biege ich scharf links ab. Unvermittelt treten zwei Gestalten auf die Strasse! Ich ziehe eine Vollbremse. Es reicht um zwei Haaresbreiten. Die vordere Person merkt von allem nichts. Sie scheint noch zu dösen und trottet auf die andere Strassenseite. Bei der zweiten Person mache ich zuerst eine hängende Unterlippe aus. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um – für eine Sekunde blicken wir einander an, Auge in Auge. Als ich ihn erkenne, stockt mir der Atem. Danach bringe ich ein schwächliches „Göht nume wiiter“ heraus. Angelerntes Berndeutsch.

Wortlos überquert Bundesrat Christoph Blocher die Strasse. Auf der anderen Seite wartet sein Leibwächter.

Im leichten Wind der Weiterfahrt finde ich: „Irgendwie sympathisch, dass auch ein Justizminister sich nicht immer haargenau an die Gesetzgebung hält.“ Der Kritikus in mir hingegen moniert: „Das wäre deine Chance gewesen. Ganz malziös hättest du auf den Fussgängerstreifen, 20 Meter nebenan, hinweisen können – die Krönung eines jungen Tages.“

Auch Bürokollege Suppino kritisiert: „Hättest du doch den Blocher über den Haufen gefahren! Du warst ja im Recht.“ Nun, was wäre passiert, wenn ich den Justizminister mit 15 Stundenkilometern angefahren hätte? Mein Stadtvelo, Jahrgang 1995, Marke Villiger, und ich versus Blocher, den Titan der Schweizer Politik, 90 Kilogramm schwer und 66 Jahre alt.

Wäre der Rahmen gebrochen? Blocher tonlos zu Boden gegangen? Der Radfahrer mit einem Salto über den Lenker auf das Pflaster geknallt? Wären wir beide wieder im Spital erwacht? Nebeneinander? Hätten wir Duzis gemacht?

Denken wir an die Schlagzeilen: „Wahlkämpfer bringt Blocher zu Fall!“ Schweizweite Bekanntheit für einen Tag. Es soll Menschen geben, die die Schweiz retten wollen. Ich rettete Blocher – vor ein paar blauen Flecken und Prellungen. Allenfalls vor gebrochenen Rippen.

Christoph Blocher nicht von den Beinen zu holen war eine wahlkämpferische Tat. Vermutlich nicht meine schlechteste in diesem Jahr.

 

 

Die Illustration dieses Blog-Postings machte Lorenz «Lopetz» Gianfreda vom Büro Destruct. Vielen Dank.