Kein Land ist so europäisch wie die Schweiz

Die Schweiz ist mit Europa seit Jahrhunderten wirtschaftlich und kulturell eng verbunden. So brachten die anderswo verfolgten Hugenotten das Uhrmacher-Handwerk in die Romandie. Als die Schweizer Uhrenindustrie in den Achtzigerjahren darniederlag, verhalf ihr Nicolas Hayek, ein Migrant aus dem Libanon, zu einem Comeback. Bis zum Ersten Weltkrieg war St. Galler Stickerei unser wichtigstes Exportgut. Julius Maggi, Sohn von Migranten aus der Lombardei, erfand in Kemptthal den Maggi-Würfel und revolutionierte damit das Kochen in ganz Europa. Italienische Gastarbeiter bauten den Gotthard-Eisenbahntunnel und hundert Jahre später unsere Autobahnen.

Die Situation heute ist vergleichbar: International besetzte Spin-offs der ETH Zürich und Lausanne schaffen stetig Innovationen und neue Arbeitsplätze. Rund 420’000 Schweizerinnen und Schweizer leben und arbeiten inzwischen in den 27 EU-Ländern. Die Personenfreizügigkeit funktioniert zum Glück in beide Richtungen. Kein Wunder, dass sich die Auslandschweizer-Organisation (ASO) vehement für ein Nein am 27. September einsetzt. Die Spieler der Fussballnationalmannschaft heissen inzwischen nicht mehr Sulser, Bregy oder Frei, sondern Shaqiri, Mbabu, Rodriguez oder Seferović.

All diese Beispiele zeigen: Offene Grenzen, Agilität, Fleiss sowie der Transfer von Ideen und Wissen haben unser Land bereichert und zu dem gemacht, was es heute ist. Es lohnt sich, die Entwicklung der Schweiz über eine lange Zeitspanne zu beurteilen, anstatt den populistischen Hiobsbotschaften aus der nationalkonservativen Ecke Glauben zu schenken.

Das Wort Kündigungsintiative hat Christoph Blocher erfunden

Bei einem Ja zur Begrenzungsinitiative hätte der Bundesrat nur zwölf Monate Zeit, um die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln. Bleiben wir realistisch: Ein Jahr reicht niemals, das Unheil bei einem Ja würde noch grösser: Sechs Monate nach der Personenfreizügigkeit fallen auch die anderen sechs Abkommen der Bilateralen I automatisch. Das ist der Effekt der Guillotine-Klausel. Die Begrenzungsinitiative ist also in Tat und Wahrheit eine Kündigungsinitiative. Das Wort kündigen steht übrigens sogar im Initiativtext, erfunden hat es 2014 SVP-Übervater Christoph Blocher. Was eine «massvolle Zuwanderung» ist und wie diese abgewickelt werden soll, erklären die Initianten nicht.

Es ist so einfach wie populär, gegen die Personenfreizügigkeit und die EU Stimmung zu machen. Fakten scheinen dabei nebensächlich zu sein. Ich will die beiden Aspekte, die aus meiner Sicht am Wichtigsten sind, beleuchten:

– Absatzmarkt: Mehr als 50 Prozent aller Schweizer Exporte gehen in den europäischen Binnenmarkt. Dabei sind grosse Unternehmen genauso wie unzählige KMU auf unbürokratische Prozesse angewiesen. Die bilateralen Verträge sichern den Zugang zum Binnenmarkt und hunderttausende von Jobs in unserem Land. Die Flankierenden Massnahmen (FlaM) und regelmässige Kontrollen schützen vor Lohndumping.

– Babyboomer-Ersatz:
In den nächsten zehn Jahren werden 1,1 Millionen Babyboomer, also die Jahrgänge bis 1964, pensioniert. Bereits 2021 gehen mehr Erwerbstätige in den Ruhestand, als Junge zu arbeiten beginnen. Kann diese Entwicklung nicht abgefedert werden, schrumpft die Wirtschaftsleistung, die Verteilkämpfe nehmen zu und das Rentenalter muss weiter erhöht werden. Das kann kein Ziel der Schweiz sein! Vielmehr müssen wir den demografischen Wandel mit einer Umschulungsoffensive und mit Fachkräften aus anderen Ländern auffangen. Im Gesundheitswesen ist die Lage schon jetzt prekär.

Die Gretchenfrage lautet: Wollen wir den bilateralen Weg weitergehen oder beenden? Für mich ist der Fall klar: Die bilateralen Verträge sind zu wichtig für die Zukunft unseres Landes, ein Ja zur Kündigungsinitiative würde kein einziges Problem lösen.

 

Das Abstimmungsbüchlein zu den Abstimmungen vom 27. September 2020 zum Herunterladen als PDF.

Auge in Auge mit dem Justizminister

Mittwochmorgen. Irgendwoher erklingen sieben Glockenschläge durch das Halbdunkel. Ich radle gut gelaunt und in gemächlichem Tempo zur Arbeit. Linker Hand der Bundesplatz, rechts das legendäre „Café Federal“.

Vor der Berner Kantonalbank biege ich scharf links ab. Unvermittelt treten zwei Gestalten auf die Strasse! Ich ziehe eine Vollbremse. Es reicht um zwei Haaresbreiten. Die vordere Person merkt von allem nichts. Sie scheint noch zu dösen und trottet auf die andere Strassenseite. Bei der zweiten Person mache ich zuerst eine hängende Unterlippe aus. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um – für eine Sekunde blicken wir einander an, Auge in Auge. Als ich ihn erkenne, stockt mir der Atem. Danach bringe ich ein schwächliches „Göht nume wiiter“ heraus. Angelerntes Berndeutsch.

Wortlos überquert Bundesrat Christoph Blocher die Strasse. Auf der anderen Seite wartet sein Leibwächter.

Im leichten Wind der Weiterfahrt finde ich: „Irgendwie sympathisch, dass auch ein Justizminister sich nicht immer haargenau an die Gesetzgebung hält.“ Der Kritikus in mir hingegen moniert: „Das wäre deine Chance gewesen. Ganz malziös hättest du auf den Fussgängerstreifen, 20 Meter nebenan, hinweisen können – die Krönung eines jungen Tages.“

Auch Bürokollege Suppino kritisiert: „Hättest du doch den Blocher über den Haufen gefahren! Du warst ja im Recht.“ Nun, was wäre passiert, wenn ich den Justizminister mit 15 Stundenkilometern angefahren hätte? Mein Stadtvelo, Jahrgang 1995, Marke Villiger, und ich versus Blocher, den Titan der Schweizer Politik, 90 Kilogramm schwer und 66 Jahre alt.

Wäre der Rahmen gebrochen? Blocher tonlos zu Boden gegangen? Der Radfahrer mit einem Salto über den Lenker auf das Pflaster geknallt? Wären wir beide wieder im Spital erwacht? Nebeneinander? Hätten wir Duzis gemacht?

Denken wir an die Schlagzeilen: „Wahlkämpfer bringt Blocher zu Fall!“ Schweizweite Bekanntheit für einen Tag. Es soll Menschen geben, die die Schweiz retten wollen. Ich rettete Blocher – vor ein paar blauen Flecken und Prellungen. Allenfalls vor gebrochenen Rippen.

Christoph Blocher nicht von den Beinen zu holen war eine wahlkämpferische Tat. Vermutlich nicht meine schlechteste in diesem Jahr.

 

 

Die Illustration dieses Blog-Postings machte Lorenz «Lopetz» Gianfreda vom Büro Destruct. Vielen Dank.