Als wir England mit 2:1 schlugen

Die Fans strömen aus allen Richtungen herbei, das «Joggeli» füllt sich. Das Fussballstadion in Basel ist alt und sanierungsbedürftig, aber es atmet Geschichte. Es ist der erste Match der Schweizer Fussballnationalmannschaft, bei dem ich als Zuschauer dabei bin, und es sollte ein grosser Abend werden.

Ich war Teenager und Fussball hatte einen grossen Stellenwert in meinem Leben. Bei jeder Runde der Nationalliga A hörte ich Radio DRS, das die wichtigsten Spiele jeweils live übertrug. Mein Lieblingsclub war Servette Genf, weil er den attraktivsten Fussball spielte. Wenn Sportreporter Mario Santis Stimme aus dem Äther klang, wurde er noch eine Klasse besser.

Dass ich an ein WM-Qualifikationsspiel gehen konnte, war ausserhalb meiner Vorstellungskraft. Doch da überraschte mich mein Vater: «Filius», sagte er eines Abends, «Schweiz – England schauen wir uns im Stadion an.» Das fühlte sich an wie Weihnachten! Ein paar Schulfreunde durften auch mitkommen.

Mit dem Zug fuhren wir nach Basel, und schon unterwegs waren wir aufgekratzt. Die Vorfreude war kaum zu bändigen – endlich mittendrin! Wir schreiben den 30. Mai 1981, ein milder Samstagabend.

Im «Joggeli» stellen wir uns auf der Höhe der Mittellinie hin. Um uns herum hat es viele Romands. Mit unseren schüchternen Französischkenntnissen verständigen wir aus auf einen gemeinsamen Schlachtruf. Er klingt überzeugend und geht so: «Hopp Suisse, hopp Suisse!» (Dass die Romands das «H» nicht richtig aussprechen konnten, amüsierte mich im Stillen.) Wir schreien ihn den ganzen Abend, ohne müde zu werden.

Was auf dem Rasen passiert, ist verzückend. Die Schweiz beginnt selbstbewusst und abgeklärt. Wir Fans spüren: Da liegt etwas in der Luft. Der neue Trainer Paul Wolfisberg (im Bild rechts) hatte innerhalb von kurzer Zeit eine Mannschaft zusammengeschweisst, die nicht nur ansprechend spielt (wie zuvor), sondern auch gute Resultate erzielt. Nach vielen Jahren war die Teilnahme an einer Endrunde endlich wieder in Griffweite. «Olé España!» (Es ging um die Qualifikation für die WM 1982 in Spanien.)

Nach einer halben Stunde schiesst Fredi Scheiwiler den Führungstreffer. 40’000 Fans hüpfen auf und ab. Keine zwei Minuten später doppelt Claudio Sulser nach. Der Jubel im Stadion kennt keine Grenzen, wir können es kaum fassen: Die Schweiz führt gegen England, dort, wo die Wiege des Fussballspiels steht, mit 2:0!

Plötzlich kommt eine andere Dynamik auf: Auf den Rängen fliegen faustgrosse Steine durch die Luft. Mehrere Dutzend Engländer gehen auf die Schweizer Fans los, ein Securitas-Wächter wird zu Boden geschlagen.

Der Match wird unterbrochen, die Bühne hat sich gedreht: 22 Spieler und drei Schiedsrichter schauen zu, was auf den Stehplätzen passiert. Die Schlägereien sind heftig, wir haben Angst, können aber nicht davonrennen.

Nach ein paar Minuten klingen die Aggressionen ab, die Hooligans ziehen sich zurück. Der Match geht weiter. England gelingt der Anschlusstreffer. Die Phase des Leidens beginnt – für Wolfisbergs Elf auf dem Rasen, für uns auf den Rängen.

Doch den Sieg lassen wir uns nicht mehr nehmen! Nach dem Schlusspfiff gleicht das «Joggeli» einem Tollhaus, Wildfremde umarmen sich und schreien ihre Freude in den Nachthimmel hinaus.

Berauscht marschieren wir zurück zum Bahnhof. Immer wieder reissen wir die Arme in die Höhe, unsere Stimmen geben nur noch ein heiseres Krächzen von sich. Egal. Das Adrenalin pumpt weiter. Was für ein Sieg, was für ein Abend!

In den verflossenen 43 Jahren hat mich kein anderer Match mehr ähnlich mitgerissen wie damals. Auch wenn die Schweizer Nati heute Abend im EM-Viertelfinal England schlägt, wird das so bleiben. «Big Money» und schmierige Figuren wie Sepp Blatter und Gianni Infantino haben den Männerfussball kaputt gemacht.

Die Nacht, die ich nicht im Zelt verbrachte

Das Schild auf der Strasse verkündet: „Åtvidaberg“. In gemächlichem Tempo pedale ich in das Städtchen hinein. Es hat eine gute Energie, Amselmännchen geben ihr abendliches Konzert, die warme Sonne wirft lange Schatten. Dann wird der Blick frei auf den See und die Entscheidung ist gefallen: Hier bleibe ich für eine Nacht.

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Dass es in Schweden
überhaupt eine Gemeinde namens Åtvidaberg gibt, weiss ich erst etwa seit einer Stunde. Sie hat 7000 Einwohner und liegt zwischen Göteborg und Stockholm. Im Verlaufe des Nachmittags entdeckte ich sie irgendeinmal auf meiner Landkarte.

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Wie ich im Schatten eines alten Baumes dank diesem Internet und meinem Sklavengrätli in Erfahrung bringe, ist Åtvidaberg die Heimat von Frida „Golden Girl“ Wallberg, einer hübschen, 1 Meter 69 grossen Frau (Foto). Sie hat keine goldene Kehle, sondern eiserne Fäuste. Als Boxerin holte sie unter anderem den Profi-Weltmeistertitel im Superfeder-Gewicht.

Der Glanz des FC Åtvidaberg ist hingegen schon länger verblasst: Zu Beginn der Siebzigerjahre war dieser Fussballklub eine grosse Nummer im Land gewesen: 1970 und 1971 gewann er den Cup, in den beiden darauffolgenden Jahren die Meisterschaft. Adaptiert auf Schweizer Verhältnisse hiesse das: Eine Mannschaft wie der FC Oberglatt hätte vor 40 Jahren die damaligen Platzhirsche der Nationalliga A, Basel, FC Zürich, GC und Servette, hinter sich gelassen. Eine ulkige Vorstellung.

Doch zurück zum Jetzt: Am Bysjön, so heisst der See, will ich zelten. Wild, wie immer, weil während der Hochsaison auf den Campingplätzen Schwedens die Wohnmobile ausgerichtet sind wie in Rimini die Badetücher.

Binnen weniger Minuten habe ich mehrere geeignete Plätzchen für mein Zelt entdeckt. Doch das Aufstellen kann warten, ich muss zuerst ein anderes Grundbedürfnis stillen. Der Magen macht sich schon ein Weilchen bemerkbar: “Futter – aber dalli!” Zehn Minuten später parkiere ich meinen postgelben Göppel vor dem Restaurant des örtlichen Golfklubs. Ich bestelle Lachs, Kartoffeln und Gemüse, setze mich in die Abendsonne, strecke die müden Beine, bin zufrieden mit dem Leben und geniesse die Aussicht.

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Mit meinem Radler-Outfit falle ich unter den Golfspielerinnen und -spielern etwa so auf wie ein Löwenzahn unter Orchideen. Am Tisch nebenan sitzt ein Pärchen, das mich nach wenigen Minuten prompt darauf anspricht. Ob ich denn auch Golf spiele, fragt mich der Mann. Ich komme nicht in Versuchung, den beiden irgendetwas von meiner vermasselten Karriere als Minigolfer oder von meiner ruhigen Hand zu erzählen, vom richtigen Golf habe ich soviel Ahnung wie ein Ozelot von Algebra. Also lenke das Gespräch auf meine Velotour in den hohen Norden.

Ich finde die beiden auf Anhieb sympathisch und sie mich offenbar auch. Nach wenigen Minuten rücken wir die Stühle um einen Tisch herum. Wir unterhalten uns blendend, Mia und Peter haben Humor und sind wie alle Schwedinnen und Schweden sehr höflich. Es stellt sich heraus, dass er Chairman des lokalen Golfclubs ist. Ich dürfe mein Zelt auf der 18-Loch-Anlage aufstellen, wenn ich wolle. Ich finde den Gedanken reizvoll, die Heringe in diesen gepützelten Rasen zu drücken und am Morgen die ersten Spieler mit meiner verschlafenen Visage zu erschrecken. Wir plaudern und scherzen weiter, nach einer Stunde bietet mir das Ehepaar an, dass ich bei ihnen zu Hause im Gästezimmer übernachten dürfe – was für eine schöne Geste. Ich muss nicht überredet werden, zumal ein richtiges Bett allemal für einen besseren Schlaf sorgt.

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Wir spazieren durch die Quartiere, eine Viertelstunde später erreichen wir ihr Haus, das am Waldrand liegt. Auf dem Gartensitzplatz machen wir es uns gemütlich, die beiden sind aufmerksame Gastgeber, Sohn Jimmie, der in Chicago studiert und gerade Semesterferien hat, gesellt sich mit einem Kollegen dazu, ein guter Whisky macht die Runde. Es ist mir wohl bei den Björlings, ich mag offene, unkomplizierte Menschen, die die Kultur „des offenen Hauses“ pflegen.

Es ist möglich, dass ich ihnen zu später Stunde versprach, im nächsten Sommer zurückzukehren, um das Golfspielen zu lernen. Es könnte ja sein, dass ich Talent habe. Sonst werde ich Boxtrainer. In Åtvidaberg.

 

P.S.
Ja, liebe Leserin, ich bin mir bewusst: Der Titel dieses Postings weckte womöglich Hoffnungen auf eine „Juicy Story“ – ein alter Journalistentrick. Nope, lieber Leser, daraus wurde nichts, pardon. Aber: Åtvidaberg ist eine Reise bzw. einen Zwischenstopp wert. Mit oder ohne Golfschläger.

Als Trösterli: So sieht mein Zelt aus, wenn ich die Nacht darin verbracht habe und währenddieser nur etwas geschah: Es fiel Regen. Viel Regen.

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