Schöner Iran, schwieriger Iran

Zehn Minuten nachdem ich die armenisch-iranische Grenze passiert habe, bin ich schon Multimillionär. Eine Million Rial entspricht etwa drei Schweizer Franken. Ich kriege mehrere dicke Bündel in die Hand gedrückt, und die vielen Banknoten fühlen sich unangenehm an. Ich verteile sie auf alle Gepäckstücke und radle los.

Wenige Minuten später meldet sich der Darm, doch ich habe Glück: Wie durch eine kleine Fügung taucht eine öffentliche Toilette auf. Sie ist sauber, ich übe mich in der Kauertechnik und muss grinsen: «Kaum bin ich im Land der Mullahs angekommen, muss ich schon pfunden!»

Wie ich mir vor dem Häuschen die Hände mit Seife wasche, werde ich von einem Mann in meinem Alter angesprochen. Sein Englisch ist fliessend, er ist neugierig und lädt mich nach Täbris ein, wo er wohnt. «Ich nehme den Weg über die Berge und brauche wohl drei Tage bis dorthin», erkläre ich ihm. Hossein nickt, tippt seine Handynummer in mein Sklavengrätli und fährt mit seinen Angehörigen davon. Schon steht ein Trio vor mir – drei Frauen –, und lädt mich zu sich nach Hause ein. Wieder nach Täbris.

Der chaotisch organisierte Grenzübergang, die schmierigen Geldhändler, der Einkauf von Brot und Tomaten, die Einladungen – ich bin verwirrt und überfordert. Also nichts wie weg in die Berge.

Ich schwinge mich auf «Yellow Jeff», alsbald ist Nordooz, dieser charmefreie Ort an der Grenze, hinter den Hügeln verschwunden. Ich steige ab, tausche die langen Hosen gegen Shorts aus und kurble weiter. Die Landschaft ist karg, die Sonne brennt, das einzige Geräusch, das ich die nächsten Stunden höre, ist mein Schnaufen.

In der Abenddämmerung tauchen die Felder und Berge in verschiedene Farben. Ich setze mich an den Strassenrand und schaue dem Naturspektakel hingerissen zu.

Auf dem Hof einer Bauernfamilie darf ich campieren. Der Vater zeigt mir die Wasserquelle und die Toilette, dann stelle ich das Zelt auf, währenddessen die Kinder im Gras sitzen und mir aufmerksam zuschauen. Als ich am Essen bin, kommt der Vater vorbei und bringt mir frisches Gemüse.

Ich liege im Schlafsack – es ist inzwischen Nacht geworden –, und will den Tag Revue passieren lassen. Da huscht plötzlich ein Lichtkegel durchs Dunkel. Der älteste Junge steht mit Taschenlampe und Handy als Übersetzungshilfe vor meinem Zelt. Er will sich mit mir unterhalten, ich möchte schlafen. Wir finden einen Kompromiss.

Achtzehn Stunden später rolle ich im Schritttempo durch Arzil, ein anderes Dorf in den Bergen. Es liegt da wie ausgestorben, die wenigen Geschäfte sind verriegelt, ich finde keinen einladenden Platz zum Zelten. «Eine Null-Nummer», brumme ich und fahre enttäuscht weiter.

Etwas ausserhalb sitzen ein paar Männer im Schatten der Bäume und trinken Tee. Sie winken mich herbei. Ich setze mich zu ihnen auf die Decke, kriege Früchte und später ein leckeres Znacht. Meine Gastgeber sind sehr aufmerksam: Nachdem ich den Zucker im Tee mit dem Griff der Gabel gerührt habe, stecken sie mir beim Nachschenken diskret einen Löffel zu. Sie selber brauchen keinen, weil sie eine andere Technik anwenden: Den Würfel klemmen sie zwischen die Zähne und setzen dann das Teeglas an. So rinnt das Getränk bei jedem Schluck leicht gesüsst die Kehle herunter.

Mithilfe einer App reden und diskutieren wir stundenlang. Sie stürzt immer mal wieder ab oder übersetzt offensichtlich falsch, was uns zuweilen zum Lachen bringt. Die Atmosphäre ist entspannt, mir ist es wohl in dieser grünen Oase, die harten Stunden bergauf sind vergessen. Die Infrastruktur ist schlicht, aber funktional, hinter den Bäumen rauscht ein Bach talwärts. Junis und seine Frau verbringen jeweils den Sommer hier, weil das Klima viel angenehmer ist als in der Grossstadt. Hier bewirten sie Mitglieder ihrer weitverzweigten Sippe und Gäste wie mich.

«You are ivited» – immer wieder 

Wenn ich über die Strassen brettere, halten gelegentlich Autos, und ich kriege Früchte, Gebäck oder Getränke geschenkt. Die Übergaben geschehen ratzfatz, zuweilen gibt es noch schnell ein Foto – «Instagram? Instagram!» –, nach zwei Minuten ist der Spuck vorbei. In Restaurants passiert mir dasselbe – «you are invited!», zuweilen auch in den kleinen Geschäften, wenn ich ein Getränk kaufen will. Dazu kommen die Einladungen zum Essen und Übernachten.

Die Menschen in der nordwestlichen Ecke des Irans sind ausgesprochen aufmerksam und gastfreundlich, egal ob sie Türken, Kurdinnen, Perser oder Aserbaidschanerinnen sind. Gastfreundschaft ist etwas Schönes, in der Schweiz sollten wir uns eine Scheibe davon abschneiden.

Trotz spektakulärer Natur und der grossen Empathie der Menschen war ich meistens bedrückt, weil die Leute bedrückt sind. Eine schwere Decke liegt auf ihnen, sie leiden. Der Vielvölkerstaat ist ein Land in Moll. Wenn immer wir ins Gespräch kamen, stellten sie eine Frage mit Sicherheit: «Wie denkt ihr über uns?» Die Eindringlichkeit, wie diese Frage adressiert wurde, erlebte ich bislang nur im Kolumbien der Neunzigerjahre, das damals im Würgegriff von Guerilla und Paramilitärs war.

Natürlich redeten wir in überschaubaren Runden über Politik. Die Leute haben sich arrangiert mit Überwachung, Einschränkungen und dem «Filter», wie sie es nennen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nach der islamischen Revolution von 1979 zur Welt gekommen, sie kennt nur dieses System. Die reiferen Semester mussten schon das repressive Regime des Schahs erdulden, es war keinen Deut besser. Viele Menschen hadern mit ihrer Situation, so meine subjektive Einschätzung.

Nehmen wir das Beispiel von Yusuf, wie er hier heissen soll. Er ist 31 Jahre alt, Kurde und promovierter Agrarwissenschaftler. Jetzt verkauft er im Dorfladen seiner Eltern Zwiebeln, Waschmittel und Schleckzeugs. Er ist frustriert, möchte etwas erreichen in seinem Leben und denkt an Flucht. Hundertausende haben sie schon hinter sich, der Braindrain ist enorm. Ein Freund sei im Mittelmeer ertrunken, erzählt Yusuf. Für einen Moment wird sein Blick leer.

Ich empfehle ihm, intensiv Englisch zu lernen und sich dann im Netz nach einem Job aus seinem Bereich zu bemühen, am besten in den Niederlanden. Dort hat die Landwirtschaft einen höheren Stellenwert als in anderen Ländern Europas, zugleich sind sie innovativ und offener.

Wieder auf dem Fahrrad wird mir bewusst, wie hilflos mein Ratschlag war. Das Leben ist verdammt beschissen, wenn man auf seiner Schattenseite geboren wurde.

Eine kleine Ode an Italien

Die letzten zehn Tage radelte ich mehrheitlich durch Teile des Piemonts, der Lombardei und der Provinz Emilia-Romagna. Zum Glück hatte ich vor dem Start ein paar Stunden für die Routenwahl investiert. Die Route ging durch endlose Weizenfelder und schmucke Städtchen mit viel Patina, ein paarmal auch durch Siedlungsbrei, grau und hässlich. Meistens war ich auf Nebenstrassen unterwegs, was wenig Verkehr und mehr Höhenmeter bedeutete, aber viel mehr Ruhe und Genuss brachte. Der Flow kam – täglich!

Der pralle Sommer begleitete mich von Domodossola bis vor Ancona. (Am elften Tag pausierte ich in Senigallia, und dann regnete es sanft.) Und noch etwas war allgegenwärtig: die Fröhlichkeit und Gelassenheit der Menschen, denen ich begegnet bin, in den Gasthöfen, auf dem Markt, im Lebensmittelladen oder, wie gerade vorhin, auf der Post, als ich ein Paket aufgab, was für sich alleine ein amüsantes Posting abgäbe. Damit wäre auch geklärt, dass ich die Triage doch noch gemacht habe.

Ich erinnere mich an keinen einzigen Raser, in unübersichtlichen Situationen waren die Automobilistinnen und Lastwagenfahrer rücksichtsvoll, nur einmal, in einem Kreisel, wurde mir der Vortritt verweigert. Ich war überrascht, wie viele gute Radwege es gibt. In Bologna beispielsweise führt eine Spur bis fast ins Stadtzentrum, ohne dass ich etwas vom übrigen Verkehr bemerkt hätte.

Und dann das Essen, amici: DAS ESSEN! In den letzten zehn Tagen habe ich und gut und viel gegessen. Die italienische Küche gilt zwar nicht als «haute cuisine», sie ist dafür währschaft und mit Liebe zubereitet – darum geht’s. Teil des Erfolgs ist das Personal: Die Leute im Service lieben, was sie tun. Ich erlebte sie als aufmerksam, charmant und umsichtig, und ja, sie wussten intuitiv um meinen süssen Zahn. Selten kam ich ohne Dolci davon – was soll’s, nach einer halben Stunde im Sattel ist der Zucker wieder weggestrampelt!

Zwei kurze Geschichten will ich euch nicht vorenthalten. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass ich diese kleinen Ode an Italien schreibe und mit etwas Wehmut die Fähre über die Adria nach Kroatien nehme.

Das Wasserbidon ist leer, der Magen hat zu knurren begonnen, ich komme in der Bruthitze kaum noch voran. Als stoppe ich beim nächstbesten Restaurant und stelle «Yellow Jeff» in den Schatten eines 28-Tönners. Unter dem Vordach sitzen Männer in Unterhemden vor grossen Portionen. Sie schwatzen und alle scheinen sich zu kennen – benvenuti in der Lastwägeler-Beiz.

Kaum habe ich bestellt, will der Chauffeur nebenan etwas über mein Velo wissen. Die anderen hören zu, und dann geht es los mit ihren Fragen: Woher? Wohin? Warum? Ob das denn Ferien seien? Ich muss mich konzentrieren und bringe viele Antworten nur radebrechend hin, zuweilen hilft der Unterbau in Spanisch. Die Italiener stört das nicht, sie haben ein echtes Interesse an diesem ciclista aus der Schweiz. Aber irgendeinmal ist auch die zweite Runde Kaffee durch, sie stehen auf, klopfen mir mit ihren Pranken auf die Schultern und verabschieden sich wie alte Bekannte.

Sie hat kein italienisches Blut und ursprünglich einen anderen Namen

Vera hat dunkle Locken, Pfiff und ein offenes Antlitz. In ihren Adern fliesst kein italienisches Blut und sie hatte ursprünglich einen anderen Namen. Sie ist sich bewusst, dass niemand auf sie gewartet hat und sie mehr leisten muss als andere, um mit ihren Leben voranzukommen. Viel mehr.

Sie hat einen Job und vermietet nebenher ihre Wohnung auf der Plattform von AirBnB, um den Lohn aufzubessern. Das Geschäftliche wickelt Vera effizient und zugleich herzlich ab. Ihre Wohnung hat sie mit wenig Geld, aber viel Geschmack eingerichtet. Überall stehen Blumen – echte Blumen, währenddessen es in den meisten anderen AiBnB solche aus Plastik hat! –, und es riecht nach Sonne. Die Schranktüren in der Küche sind aus Schiefer, so dass sich die Gäste mit Kreide kreativ austoben können – und das taten sie! (Ich Dösel fand das so cool, dass ich die Werke zu fotografieren vergass.) Ihre Wohnung ist wie ein richtiges Zuhause. Wenn Vera Touristen beherbergt, schläft sie bei Bekannten. Veras Geschichte ist diejenige vieler Migrantinnen in Italien.

PS:
Damit ich doch noch etwas kritisiere: Zwei Sachen können sie nicht in Italien: Frühstück und Salatsauce.

James kann nicht kochen – eine Weihnachtsgeschichte

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Kurz vor 23 Uhr checke ich ein. Das Hotel hat drei Sterne, neunzehn Stockwerke und eine unsympathische Rezeptionistin; es ist seelen- und geruchslos, ein Bunker. Aus dem zweiten Stock dröhnt übersteuerte Karaoke-Musik, die Stimmen treffen die Töne selten, aber egal: Ich bleibe ja nur eine Nacht, am nächsten Morgen geht die Reise weiter. Die Versuchung, mich auf Manila, diesen Moloch einer Stadt einzulassen, war auch während der Ferienvorbereitung nie erwacht.

Im Zimmer angelangt, stelle ich meinen Rucksack in eine Ecke, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht, ziehe ein frisches T-Shirt an und schon bin ich wieder draussen. Die tropische Wärme empfängt mich. Überall blinken Lampen, Lämpchen und Reklamen, Motorräder, Taxis und Tuk-Tuks rollen vorbei, „diese Stadt schläft nie“, erzählte mir ein Kollege, der einmal hier gelebt hat.

Ich will nicht um die Häuser ziehen, sondern mir bloss noch etwas die Füsse vertreten. Schon nach ein paar Minuten entdecke ich die ersten Obdachlosen: Sie schlafen in den Eingängen der Läden, unter Bäumen, auf den Treppen einer Kirche – überall, wo sie ein wenig Schutz finden. Standard ist eine Unterlage aus Karton, einige haben zusätzlich eine verfilzte Decke zur Verfügung, Dritte wiederum liegen auf dem blossen Boden. Es sind Teenager, Greise und viele elternlose Kinder, die jüngsten dürften noch nicht einmal im schulpflichtigen Alter sein.

Als ich die Hotellobby betrete, löst sich gerade eine Hochzeitsgesellschaft auf, eine Hundertschaft gut gekleideter Leute macht sich auf den Weg nach Hause. „Nehmt doch Gesangsstunden!“, brummle ich vor mich hin und verschwinde in meinem heruntergekühlten Zimmer.

Zwei Tage später.

Die Güggel in der erweiterten Nachbarschaft geben alles, damit ich vor den ersten Sonnenstrahlen aufwache – Concerto Grosso. Ich bin inzwischen auf der Insel Palawan angekommen, eine Flugstunde westlich von Manila, und habe mich in einer gemütlichen Lodge einquartiert. Nach dem Frühstück – phoa, diese Fruchtsäfte! – schnüre ich meine Wanderschuhe und packe einen kleinen Rucksack, was ich für die nächsten Stunden brauche: eine grosse Flasche Wasser, das Sackmesser, den Fotoapparat (die gute alte Canon) und ein Buch, aber bewusst keine Landkarte und auch das mobile Sklavengrätli bleibt zurück. Ich will einfach mal drauflos. Das mache ich seit vielen Jahren immer mal wieder – ein Erfolgsrezept.

Zügigen Schrittes streife ich durch das grüne Dickicht, die Sonne dient als grobe Orientierung. Plötzlich stehe ich auf einer Lichtung, Hühner trippeln geschäftig herum, zwei Hunde liegen faul in der Sonne, im Hintergrund sind ein solides Holzhaus und zwei Bungalows zu erkennen. Vorne, unter einem einfachen runden Bambusdach, das von acht Pfählen getragen wird, nehme ich Bewegungen war. Aus der Nähe entpuppt sich die auf allen Seiten offene Hütte als Freiluftküche. Töpfe sind aufgereiht, Kellen hängen an einer Schnur, auf der Theke stehen mehrere Plastiksäcke mit Gemüse.

Zwei junge Leute schälen Gurken. Als sie mich entdecken, grüssen sie freundlich. „Do you want to try our cookies?“ Schon streckt mir die Frau ein Teller mit ihren Güetzi entgegen. Das Gebäck ist grünlich…, schmeckt vorzüglich, allerdings habe ich keine Ahnung, was ich mir in den Mund schiebe. So sind wir flugs in ein munteres Gespräch über Zutaten im Speziellen und das Leben im Allgemeinen verwickelt. Beide sind Frohnaturen und neugierig, ihr Englisch ist fliessend.

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Ziel des Tages
sei, dass James endlich kochen lerne, erklärt Mimi. Und so kommandiert sie Schritt für Schritt, was er zu tun hat, mal greift sie ein, mal tadelt sie kumpelhaft – die Kochsession wird zur Comedy und wir müssen oft lachen. Schliesslich hat sie doch das Meiste selber erledigt, und vor mir steht eine Mahlzeit, die lecker duftet: Reis, gegrillter Fisch, eine pikante Sauce und ein mit viel Liebe dekorierter Gurkensalat. Wir futtern zu dritt, das Zmittag schmeckt vorzüglich. (Okay, eine richtige Salatsause fehlte. Aber… das hätte ja mein Job sein können, stupid!)

Nun müssen Mimi und James für die Gäste, die die Bungalows gemietet haben, kochen. Ich schultere den Rucksack und frage die beiden, was ich ihnen schulde. „Nothing“, klingt es zurück. Mimis Stimme tönt bestimmt. „You were our guest.“

Ich klaube mein Schweizer Sackmesser hervor und lege es auf den Tresen. „Merry Christmas!“ Sie danken und winken, wie ich mich zum Gehen wende. Nach ein paar Metern drehe ich mich nochmals um: „One day, I’ll be back. Make sure you know how to cook then, James!“

Der junge Mann lacht über das ganze Gesicht und macht das „Daumen-hoch“-Zeichen. „Sure!“