Midsommar in Montenegro

Die Kleinstädte an der Adriaküste Montenegros sind historisch und charmant. Bar ist die Ausnahme, hat dafür geostrategisch eine zentrale Bedeutung. Während des Kalten Kriegs nutzte die Sowjetunion den Hafen von Bar mit ihren Schiffen und hatte so Zugang zum Mittelmeer.

Während der Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 bis 1995 zerfiel, bildeten sich an seiner Stelle eigenständige Länder. Montenegro (übersetzt: Schwarzer Berg) musste sich zuerst schrittweise von der Schwesterrepublik Serbien und dem Regime von Slobodan Milošević loslösen, bevor es 2006 die Unabhängigkeit erlangte; das Volk sprach sich mit 55 Prozent Ja-Stimmen dafür aus.

2017 folgte ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Landes, das dreimal kleiner ist als die Schweiz und 14 Mal weniger Einwohner zählt: Montenegro wurde als 29. Mitglied von der Nato aufgenommen. Wer die Europakarte betrachtet, merkt schnell, weshalb ihr die Integration Montenegros so wichtig war. Moskau reagierte verärgert.

Bar hat aus einem zweiten Grund eine strategische Bedeutung: Von hier aus führt eine 476 Kilometer lange Eisenbahnlinie bis nach Belgrad. Die Strecke umfasst rund 250 Tunnel und ebenso viele Brücken. Bis zur Wasserscheide in den Bergen schraubt sie sich auf 1000 Meter über Meer und gilt als eine der attraktivsten Bahnlinien Europas. Sie war das teuerste Infrastrukturprojekt Jugoslawiens und ein Prestigeobjekt des Langzeitdiktators Josip Tito. Nach 25 Jahren Arbeit wurde es 1976 mit einem grossen Volksfest eröffnet.

Als Eisenbahnromantiker wollte ich diese Strecke natürlich kennenlernen. Das machte ich vor Wochenfrist – bis zur montenegrinisch-serbischen Grenze, abends fuhr ich zurück, «Jellow Jeff» und meine müden Müskeli kriegten einen Tag Pause.

Die Fahrt durch die Schluchten, Berge und Wälder ist spektakulär, die Panoramen sind atemberaubend, die Fensterscheiben dreckig. Die meisten Fotos, die ich machte, taugen deshalb nichts. Mehr als ein Ersatz ist dieses Youtube-Video.

Auf dem Rückweg von Bijelo Polje nach Bar bleibt unser Zug mitten in den Bergen plötzlich stehen. Die Passagierinnen gucken sich verdutzt an und dann passiert – nichts. Irgendeinmal wackelt der Zugbegleiter durch die Waggons und erklärt knapp, dass die Lokomotive kaputt sei und ausgewechselt werden müsse. Ein «Sorry» hören wir nicht. Die Türen gehen auf und wir vertreten uns draussen die Füsse.

Es ist immer so: Wenn im Bahnverkehr nichts mehr geht, beginnen wildfremde Leute miteinander zu reden. Ich komme mit drei jungen Leuten aus Schweden ins Gespräch. Sie sind lebenshungrig, witzig und voller Energie. Seit Kindsbeinen kennen sie sich, studieren inzwischen in Lund und bereisen Südosteuropa mit dem Interrail – zum Teil zu dritt, zum Teil allein.

Aus dem Nichts ist eine dunkle Wolkenwand aufgezogen und schon geht ein Platzregen darnieder. Wir stürmen in die Waggons, doch es als nur noch nieselt, sind wir schon wieder draussen und geniessen die warmen Regentropfen auf unserer Haut. Es riecht gut. Ein Paar beginnt zu tanzen.

Inzwischen sind zwei Stunden vergangen, und die Ersatzlok hätte schon lange hier sein sollen. «Never mind», unsere Laune und die Themen bleiben gut.

Ich weise die Schweden darauf hin, dass heute doch «Midsommar», das grosse Fest der Sommersonnenwende, gefeiert werde. Das Stichwort reicht und das Trio wieselt davon. Zwei Minuten später stehen sie wieder auf den Geleisen mit Snacks und einer Flasche Rotwein. Weil wir keine Gläser haben, kommt mein Sackmesser zu Einsatz. Wir zerschneiden ein paar Pet-Flaschen, was als Ersatz allemal taugt – und überhaupt: Wein ist Wein. «Skål!»

Irgendeinmal kommt die Ersatzlok doch noch. Wir ruckeln durch die Dunkelheit und kommen tief in der Nacht in Bar an.

Der Doppeladler – zwei Perspektiven


Im WM-Match Schweiz – Serbien läuft die 90. Spielminute. Xherdan Shaqiri schlenzt den Ball zum 2:1-Sieg ins Tor. Mit dem linken Fuss, an dessen Schuh übrigens die Schweizer Flagge prangt, rechts diejenige des Kosovos. „Shaq“ schlägt mit seiner rechten Hand auf das Schweizerkreuz, das sein Leibchen über der stolzen Brust ziert, dann formt er mit den Fingern den Doppeladler. Wie zuvor schon Granit Xhaka, nachdem dieser das 1:1 geschossen hatte. Der doppelköpfige Adler wird auch als Symbol für Grossalbanien, das Albanien, den Kosovo und Teile Mazedoniens umfassen soll, verstanden.

Die Doppeladler-Geste der beiden kosovostämmigen Fussballstars ist nicht nur “ein Gruss an die Familie“, sondern auch eine Reaktion auf die Provokationen der letzten Tage. Serbische Boulevardmedien hatten die Stimmung gegen Shaqiri aufgeheizt, während des WM-Spiels gegen die Schweiz waren serbische Fans zu sehen, die Pullover mit dem Konterfei des verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić trugen.

Die Jubelgesten von Shaqiri und Xhaka sind für viele Serbinnen und Serben nationalistisch, aber wir sollten etwas nicht vergessen: Auch Fussballer sind nur Menschen. Der Furor geht weiter, wenn die Fifa gegen sie Sanktionen beschliessen sollte.

Zwei Dinge geben mir zu denken:

– Eine Nationalrätin twitterte nach dem Sieg der Schweizer Nati: «Ich kann mich nicht wirklich freuen. Die beiden Goals sind nicht für die Schweiz gefallen, sondern für den Kosovo.» Es ist bedenklich, wie Natalie Rickli auch bei diesem Thema sofort ein eigenes politisches Süppchen zu kochen beginnt.

– Auf dem Onlineportal „Infosperber“ werden Shaqiri und Xhaka als „Schweizer“ Fussballer bezeichnet. Der Autor unterscheidet also zwischen Schweizern und „Schweizern“. Mit Verlaub, aber das ist Populismus, jeder dritte Mensch in unserem Land hat Migrationshintergrund. (Nachtrag vom 25. Juni 2018, 17 Uhr: Inzwischen wurden die Anführungszeichen gelöscht, aus “Schweizer” wurden Schweizer. Dazu wurde eine Entschuldigung, die einen Satz umfasst, gestellt.)

Ich arbeitete längere Zeit auf dem Balkan, Mitte der Neunzigerjahre in Bosnien, in den Nullerjahren im Kosovo. Dabei wurde mir bewusst, wie allgegenwärtig Nationalismus ist: oft subtil, manchmal aber auch bedrohlich, etwa bei Grossveranstaltungen.

Der Nationalismus setzte 1986 ein, nachdem Intellektuelle in Belgrad das „Memorandum zur Lage der serbischen Nation in Jugoslawien“ veröffentlicht hatten. Slobodan Milošević wurde ihr Werkzeug. Das Memorandum vergiftete die Atmosphäre im Vielvölkerstaat, Brandstifter von anderen Ethnien traten nun ebenfalls auf den Plan. Der Eiserne Vorhang fiel 1989/1990, damit verschwand für Jugoslawien auch die latente Bedrohung durch die Sowjetunion. Es geschah, was laut “Drehbuch” geschehen musste: Der Krieg in Bosnien begann, 1991 war’s. Der harte Kern der Hooligan-Szenen von Roter Stern Belgrad und Dynamo Zagreb mischte bei vielen Gräueltaten mit.

Es gibt serbischen, kosovarischen, kroatischen, bosniakischen, albanischen und mazedonischen Nationalismus. Er schaukelt sich gegenseitig hoch, immer wieder. Dabei ging es auch anders.

Ich werde jenen Frühlingsabend in einem Keller Sarajevos nie vergessen: Die multiethnisch zusammengesetzte Crew des Radios, das ich 1996/1997 aufbaute, hatte sich versammelt. Sie legte den Grundstein für die Zusammenarbeit in drei Sätzen: «Wir alle haben im Krieg mindestens ein Familienmitglied verloren. Deswegen können wir uns bis ans Lebensende hassen und ausgrenzen. Besser ist es, wenn wir uns jetzt zusammenraufen und vorwärtsschauen.»

Die Programme der Radiostation wurden gemeinsam von Serben, Kroaten und Bosniaken bestritten. Diese drei Volksgruppen bekriegten sich zuvor vier Jahre lang, was gegen 100’000 Tote und mehr als eine Million Vertriebene zur Folge hatte.

Das Radio wurde gehört. In ganz Bosnien. Über Jahre hinweg. Auch als die Karawane der NGO längst zum nächsten „hot spot“ weitergezogen war. Die Völker des Balkans sollten sich ein Beispiel an dieser Radiocrew nehmen.