Leiden am Berg

Aus der Ferne sieht er aus wie ein unförmiger Klotz, der nicht zur lieblichen Provence passen will. Hobby-Radler aus halb Europa flüstern seinen Namen mit grossem Respekt: Mont Ventoux. Der Schweizer Veloprofi Beat Breu, der in den Achtzigerjahren am Berg die Konkurrenz oft stehen liess, würde ihn «einen Sauhund» nennen. Ich habe mich an diesem legendären Tour-de-France-Pass versucht. Protokoll eines episch langen Aufstiegs.

Auf meinen Velotouren habe ich etwas schnell gelernt: Nichts geht über Haferbrei am Morgen! So gibt es auch heute einen grossen Topf davon, angereichert mit Nüssen, Bananenrugeli, Trauben, Honig und Gewürzen. Während ich Löffel um Löffel in den Mund schiebe, bin ich mental schon unterwegs.

Ich schwinge mich aufs Rad und blicke auf die Uhr. Es ist 9.50 Uhr. Aus dem Nichts imitiere ich SRF-Moderator Arthur Honegger: «10vor10 – das ist der Blick hinter die einzige Schlagzeile des Tages: Schafft es Bausi auf den Monsterberg? Wir sind dabei!»

Langsam rolle ich über die farbigen Herbstblätter, die am Boden liegen. Von Malencène aus beginnt der Kampf am Berg. Vor mir liegen 21 Kilometer und 1580 Höhenmeter bis zur Passhöhe. Der Mont Ventoux sei sehr anspruchsvoll, haben mir schon viele Velofahrerinnen erzählt, die Steigung variiert zwischen 4 und 14 Prozent. Ich habe Respekt. Zugleich rufe ich mir in Erinnerung, dass ich vergleichbare Pässe in der Türkei und in Armenien auch schaffte – mit deutlich mehr Gepäck und bei mehr als 30 Grad. «Ça marche!», rede ich mir zu.

Schon bald habe ich einen Rhythmus gefunden. Eine fröhliche Wandergruppe wünscht mir vielstimmig «bonne route!». Die Temperatur ist angenehm, ich atme die frische Waldluft tief ein, da macht sich aus dem Nichts der Mistral bemerkbar. Gefühlt wird es 10 Grad kälter. Ein paar Minuten später ist er wieder weg, die Sonnenstrahlen wärmen meinen Rücken. Das tut unendlich gut. Ich kurble weiter.

Am Berg fahre ich immer sehr langsam, weil ich meine Grenzen kenne. Für die heutige Etappe habe ich festgelegt, 5 Kilometer und 400 Höhenmeter pro Stunde zurückzulegen, «auso nume ned gschprängt». Am Strassenrand mache ich einen gelb-weiss markierten Stein aus: Noch 20 Kilometer, die Steigung beträgt aktuell 9 Prozent. Zwei Momente lang überkommen mich Zweifel: «Schaffst du das?» Mein T-Shirt ist schon schweissnass.

Die Ruhe ist herrlich. Es gibt nur den Wald und mich. Manchmal rauschen die Baumkronen leise im Wind. Glücksgefühle kommen auf, ich liebe diese Phasen. Dann wird der Anstieg ruppig – 12 Prozent. Ein Schweisstropfen trifft den Lenker, eine halbe Minute ein zweiter, ein dritter. «Was macht ihr da?», frage ich sie halblaut. Wie immer, wenn ich allein radle, führe ich Selbstgespräche.

Ein Gümmeler schiebt sich an mir vorbei und mustert dabei «Yellow Jeff» und mein Gepäck. «Bonjour!» Ich erwidere seinen Gruss und staune über seine Leichtigkeit, während ich im zweiten Gang kräftig treten muss. «Hätte ich doch ein kleineres Ritzel montiert!», schelte ich mich. Diese Selbstkritik wurde in den letzten Jahren zu einem Evergreen. Selbst schuld.

Nach einer halben Stunde fühlen sich die Oberschenkel schon ziemlich hart an, ich muss eine Pause einlegen. Ich stakse herum wie ein Graureiher auf Futtersuche, strecke mich der Sonne entgegen und massiere die Muskeln. Und wieder melden sich Zweifel: «Schaffst du das?»

Der feine rote Strich am Navigationsgerät zeigt an, wo am Berg ich mich befinde – noch nirgendwo. Ermutigender ist die Zahl nebenan: 450 Höhenmeter habe ich hinter mir, also ungefähr einen Viertel. Es ist 10.50 Uhr und wieder gebe ich den Arthur Honegger: «10 vor 11 – der Schweiss läuft, der Protagonist kämpft, seine Muskeln sind hart. Schafft er es bis hinauf? Bleiben Sie dran!», gebe ich mit sonorer Stimme von mir.

Ein Pärchen mit schiggen Rennvelos und schiggen Dresses schliesst zu mir auf. Nach einem kurzen Wortwechsel können wir Mundart weiterreden. Sie kommen aus Basel und klingen auch so. Bald fehlt mir die Luft für eine brauchbare Konversation, und die beiden ziehen davon. Wieder löst sich ein Schweisstropfen von der hohen Stirn und trifft den Lenker.

Nach Kilometer 9 beträgt die Steigung 14 Prozent. Ich mühe mich keuchend im ersten Gang ab, spüre, wie mein Herz pumpt, und leide. «Stuzzi Cadenti!»

Der Blick wird frei auf die Region. Er ist spektakulär, aber ich kann ihn nicht geniessen. Also: pausieren. Ich setze mich ins Gras und packe ein kleines Picknick aus: einen Schockoriegel, der besser schmeckt als er aussieht, Haselnüsse und eine Nektarine. Für jeden Bissen lasse ich mir Zeit.

Je höher ich klettere, desto kälter wird es. Wenn ich ausatme, bilden sich Wölkchen. Wieder macht sich der Mistral bemerkbar.

Unangemeldet entfährt mir ein lauter Furz. Ich erschrecke. «Pardon!», murmle ich in die Stille hinaus und muss grinsen. Da ist niemand weit und breit, der Wind zerstäubt die Duftnote sofort.

Ein grosser Parkplatz wird sichtbar, an dessen Ende steht ein Gebäude. Als ich näherkomme, stellt es sich als ein Restaurant heraus. «Ouvert» prangt am Eingang in grünen Lettern. «Ein Geschenk des Himmels!», juble ich innerlich. Minuten später dampft eine heisse Schokolade vor mir. Ich halte die grosse Tasse mit beiden Händen und spüre, wie die Wärme zurückkommt. Die Uhr zeigt 11.50 Uhr. «Es ist 10 vor 12! – der Kampf wird hart und härter.» Die Honeggersche Schlagzeile gebe ich halblaut von mir. Die Leute am Nebentisch schauen mich verwundert an, ich zucke entschuldigend die Schultern.

Draussen ist es bissig kalt. Ich ziehe die Windjacke über und die Wollkappe noch tiefer ins Gesicht. Es fehlen noch 500 Höhenmeter, «come on, das schafft du!», mache ich mir selbst Mut. Die Strasse wird schmaler. Im Rückspiegel kommt etwas auf mich zu. Ein paar Sekunden später surrt ein E-Biker an mir vorbei, «Weichbecher!», zische ich. In einer Kurve steht eine Frau mit blonden Zöpfen und einem rotem Kopf. «Ça va?», frage ich und denke: «Doofe Frage.» Sie antwortet mit einem Schwall an Worten, die ich als Niederländisch verorte.

Weiterkurbeln. Schwitzen. Leiden.

Längst wurden die Föhren durch Eichen abgelöst. Auf beiden Seiten der Strasse wächst Moos. Meine Kraft hat nachgelassen. Praktisch immer fahre ich im ersten Gang und kann ihn nicht mehr richtig durchtreten. «Ach, das Ritzel, das verdammte Ritzel!»

Die Holländerin hat wieder aufgeholt. Zwei Minuten rollen wir nebeneinander bergan und schweigen. Dann fragt sie unvermittelt: «Why are we doing this?» Ich muss mich konzentrieren, um überhaupt eine verständliche Antwort zu formulieren. «Cause we are nuts!» Sie nickt nur, tritt in die Pedale und setzt sich von mir ab.

Plötzlich taucht ein Turm über den Baumwipfeln auf. Kein Zweifel, das muss das Gebäude auf der Passhöhe sein. Die Perspektive auf ein baldiges Ende der Plackerei wirkt besser als Koffein. Aus «Schaffe ich das?» wird «Ich schaffe es!»

Weiterkurbeln.

Die Baumgrenze liegt hinter mir. Der Blick in die Weite ist atemberaubend. Dieses Mal kann ich ihn geniessen. Bei der nächsten Spitzkehre setzt der Wind wieder ein. Er ist eisig und trägt eine milchig-weisse Wand mit sich. Die Nebelschwaden erschweren die Sicht. Ich mache mit klammen Fingern ein paar Fotos, der rote Strich auf der Navigations-App ist fast auf der Bergspitze angelangt. Mehrere Velofahrerinnen und -fahrer rollen vorsichtig die Strasse runter. Einige von ihnen feuern mich an: «Allez!», Daumen hoch, «Good job!» Das motiviert.

Mein Körper ist unterkühlt. Ich strample weiter. Honeggers «10 vor 1»-Ausgabe lasse ich aus. Es fehlen mir der Schnauf und die passende Schlagzeile.

Wegen des Nebels sehe ich vielleicht noch 20 Meter weit. Schliesslich ist sie laut Navigation da, die allerletzte Kurve. Ein mächtiger Gebäudekomplex wird rechter Hand sichtbar. Auf der Passhöhe steige ich ab, was ähnlich viel Zeit braucht, wie wenn Joe Biden zu einem Rednerpult trippelt.

Ich schlüpfe in die Regenhosen, die letzte Schicht, die ich dabei habe. Mir ist kalt bis auf die Knochen. Ein anderer Tourist fotografiert mich vor der obligaten Tafel, die mit Klebern übersäht ist. Der Wind heult und mir wird klar, wieso der Berg Ventoux heisst – der Wind ist überall.

Ein Mann mampft stoisch an seinem Sandwich und schaut in die Ferne. Ich habe keinen Hunger, sondern will so schnell wie möglich den Berg hinunter. «Zur Belohnung des Tages darfst du für einmal Warmduscher sein», erkläre ich mir selber.

Plötzlich steht die Holländerin mit einem lachenden Gesicht vor mir. Unsere Hände klatschen zusammen – «High Five»! Wir haben den «Sauhund» geschafft.

Das Streckenprofil stammt von der Website quaeldich.de

Mein fünftes Baby kommt

Das Tempo, das wir anschlagen, ist rasant. Für nichts nehmen wir uns mehr richtig Zeit. Ausgedehnte Velotouren sind das Gegenmodell: sie entschleunigen und reduzieren das Leben auf das Wesentliche. Mich machen sie glücklich.

Einen Sommer lang fuhr ich ostwärts – bis in den Iran. Diese Reise gibt es jetzt zwischen zwei Buchdeckeln. Du kannst mitfahren, mitfiebern und dich hoffentlich mit mir freuen – schweissfrei und in deinem Tempo.

Mein fünftes Buch ist ein Liebhaberprojekt. Eine Leseprobe von «Immer weiter ostwärts» und das Bestellformular gibt es auf der Website meiner Firma.

Auf Tournee mit Fotos und Geschichten

Die Feuertaufe habe ich bestanden. Nach der Première des «Diaabends», notabene in Kriens Downtown, fand das Publikum lobende Worte. Das bedeutet: Die nächsten Monate kann man mich buchen. Zur Klärung: Eine Multimediashow wie bei den Profis von Explora & Co. gibt es nicht. Ich bin nicht Fotograf, sondern Geschichtenerzähler, und es macht mir Freude, andere an meinen Abenteuern teilhaben zu lassen.

Das Angebot richtet sich an Quartiervereine, Serviceclubs, Grossfamilien und dergleichen mehr. Öffentliche Vorführungen sind nicht vorgesehen, weil mir dafür der Aufwand zu gross ist. Der «Diaabend» (ich beharre auf diesen Titel!») dauert zwischen 30 und 45 Minuten – länger geht immer.

Vor Ort braucht es einen tüchtigen Beamer oder Flatscreen, Internet und Tee mit Honig. Ich reise mit dem MacBook und einem HDMI-Kabel an. Ein Honorar will ich keines. Wer stattdessen der Bewegung Courage Civil eine Spende entrichtet, macht etwas fürs eigene Karma und unterstützt einen Verein, der Gutes tut. (In diesem Jahr liegt dessen Fokus beim Klimaschutzgesetz, über das wir im Juni abstimmen werden.)

Interessiert?

Eine DM, ein Telefonanruf oder eine E-Mail reichen zum Start:
mark.balsiger@border-crossing.ch

 👉 Zur Fotogalerie auf meinem privaten Blog, die erkennen lässt, was auf die Gäste zukommt.

From Berne to Iran by bike – 50 pictures

Ever since I turned 20 I have got a «bucket list». It keeps me focused on what I really want to do in my life. While cycling to North Cape in summer 2016 the idea of a bike trip to Iran developed and eventually became a plan. I told myself: «One day I will go for it!» This «one day» came at the end of May 2022 as I hopped on «Yellow Jeff» and headed off.

A few days ago I returned to Switzerland.

Behind me:
– 12 countries
– 5200 kilometres
– 62’000 metres in elevation gain

These are just figures. What counts are the experiences, the joys and pains while heading east.

Fews things are as rewarding as bikepacking, #ToTehran2022 is my very own roadmovie. (I missed out on Tehran due to a heatwave and moved on from Tabriz to Türkiye instead.)
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 👉 👉 👉 Click on the first picture and it increases its size. As of then you should move the cursor to the little black button «>» which appears on the right hand side of every picture. Click through and you’ll know why I love bikepacking.

 👉 👉 👉 For the German speakers among you: I published a number of little stories about my trip. For example here. You find all of them in the sidebar on the right hand side. 

Schöner Iran, schwieriger Iran

Zehn Minuten nachdem ich die armenisch-iranische Grenze passiert habe, bin ich schon Multimillionär. Eine Million Rial entspricht etwa drei Schweizer Franken. Ich kriege mehrere dicke Bündel in die Hand gedrückt, und die vielen Banknoten fühlen sich unangenehm an. Ich verteile sie auf alle Gepäckstücke und radle los.

Wenige Minuten später meldet sich der Darm, doch ich habe Glück: Wie durch eine kleine Fügung taucht eine öffentliche Toilette auf. Sie ist sauber, ich übe mich in der Kauertechnik und muss grinsen: «Kaum bin ich im Land der Mullahs angekommen, muss ich schon pfunden!»

Wie ich mir vor dem Häuschen die Hände mit Seife wasche, werde ich von einem Mann in meinem Alter angesprochen. Sein Englisch ist fliessend, er ist neugierig und lädt mich nach Täbris ein, wo er wohnt. «Ich nehme den Weg über die Berge und brauche wohl drei Tage bis dorthin», erkläre ich ihm. Hossein nickt, tippt seine Handynummer in mein Sklavengrätli und fährt mit seinen Angehörigen davon. Schon steht ein Trio vor mir – drei Frauen –, und lädt mich zu sich nach Hause ein. Wieder nach Täbris.

Der chaotisch organisierte Grenzübergang, die schmierigen Geldhändler, der Einkauf von Brot und Tomaten, die Einladungen – ich bin verwirrt und überfordert. Also nichts wie weg in die Berge.

Ich schwinge mich auf «Yellow Jeff», alsbald ist Nordooz, dieser charmefreie Ort an der Grenze, hinter den Hügeln verschwunden. Ich steige ab, tausche die langen Hosen gegen Shorts aus und kurble weiter. Die Landschaft ist karg, die Sonne brennt, das einzige Geräusch, das ich die nächsten Stunden höre, ist mein Schnaufen.

In der Abenddämmerung tauchen die Felder und Berge in verschiedene Farben. Ich setze mich an den Strassenrand und schaue dem Naturspektakel hingerissen zu.

Auf dem Hof einer Bauernfamilie darf ich campieren. Der Vater zeigt mir die Wasserquelle und die Toilette, dann stelle ich das Zelt auf, währenddessen die Kinder im Gras sitzen und mir aufmerksam zuschauen. Als ich am Essen bin, kommt der Vater vorbei und bringt mir frisches Gemüse.

Ich liege im Schlafsack – es ist inzwischen Nacht geworden –, und will den Tag Revue passieren lassen. Da huscht plötzlich ein Lichtkegel durchs Dunkel. Der älteste Junge steht mit Taschenlampe und Handy als Übersetzungshilfe vor meinem Zelt. Er will sich mit mir unterhalten, ich möchte schlafen. Wir finden einen Kompromiss.

Achtzehn Stunden später rolle ich im Schritttempo durch Arzil, ein anderes Dorf in den Bergen. Es liegt da wie ausgestorben, die wenigen Geschäfte sind verriegelt, ich finde keinen einladenden Platz zum Zelten. «Eine Null-Nummer», brumme ich und fahre enttäuscht weiter.

Etwas ausserhalb sitzen ein paar Männer im Schatten der Bäume und trinken Tee. Sie winken mich herbei. Ich setze mich zu ihnen auf die Decke, kriege Früchte und später ein leckeres Znacht. Meine Gastgeber sind sehr aufmerksam: Nachdem ich den Zucker im Tee mit dem Griff der Gabel gerührt habe, stecken sie mir beim Nachschenken diskret einen Löffel zu. Sie selber brauchen keinen, weil sie eine andere Technik anwenden: Den Würfel klemmen sie zwischen die Zähne und setzen dann das Teeglas an. So rinnt das Getränk bei jedem Schluck leicht gesüsst die Kehle herunter.

Mithilfe einer App reden und diskutieren wir stundenlang. Sie stürzt immer mal wieder ab oder übersetzt offensichtlich falsch, was uns zuweilen zum Lachen bringt. Die Atmosphäre ist entspannt, mir ist es wohl in dieser grünen Oase, die harten Stunden bergauf sind vergessen. Die Infrastruktur ist schlicht, aber funktional, hinter den Bäumen rauscht ein Bach talwärts. Junis und seine Frau verbringen jeweils den Sommer hier, weil das Klima viel angenehmer ist als in der Grossstadt. Hier bewirten sie Mitglieder ihrer weitverzweigten Sippe und Gäste wie mich.

«You are ivited» – immer wieder 

Wenn ich über die Strassen brettere, halten gelegentlich Autos, und ich kriege Früchte, Gebäck oder Getränke geschenkt. Die Übergaben geschehen ratzfatz, zuweilen gibt es noch schnell ein Foto – «Instagram? Instagram!» –, nach zwei Minuten ist der Spuck vorbei. In Restaurants passiert mir dasselbe – «you are invited!», zuweilen auch in den kleinen Geschäften, wenn ich ein Getränk kaufen will. Dazu kommen die Einladungen zum Essen und Übernachten.

Die Menschen in der nordwestlichen Ecke des Irans sind ausgesprochen aufmerksam und gastfreundlich, egal ob sie Türken, Kurdinnen, Perser oder Aserbaidschanerinnen sind. Gastfreundschaft ist etwas Schönes, in der Schweiz sollten wir uns eine Scheibe davon abschneiden.

Trotz spektakulärer Natur und der grossen Empathie der Menschen war ich meistens bedrückt, weil die Leute bedrückt sind. Eine schwere Decke liegt auf ihnen, sie leiden. Der Vielvölkerstaat ist ein Land in Moll. Wenn immer wir ins Gespräch kamen, stellten sie eine Frage mit Sicherheit: «Wie denkt ihr über uns?» Die Eindringlichkeit, wie diese Frage adressiert wurde, erlebte ich bislang nur im Kolumbien der Neunzigerjahre, das damals im Würgegriff von Guerilla und Paramilitärs war.

Natürlich redeten wir in überschaubaren Runden über Politik. Die Leute haben sich arrangiert mit Überwachung, Einschränkungen und dem «Filter», wie sie es nennen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nach der islamischen Revolution von 1979 zur Welt gekommen, sie kennt nur dieses System. Die reiferen Semester mussten schon das repressive Regime des Schahs erdulden, es war keinen Deut besser. Viele Menschen hadern mit ihrer Situation, so meine subjektive Einschätzung.

Nehmen wir das Beispiel von Yusuf, wie er hier heissen soll. Er ist 31 Jahre alt, Kurde und promovierter Agrarwissenschaftler. Jetzt verkauft er im Dorfladen seiner Eltern Zwiebeln, Waschmittel und Schleckzeugs. Er ist frustriert, möchte etwas erreichen in seinem Leben und denkt an Flucht. Hundertausende haben sie schon hinter sich, der Braindrain ist enorm. Ein Freund sei im Mittelmeer ertrunken, erzählt Yusuf. Für einen Moment wird sein Blick leer.

Ich empfehle ihm, intensiv Englisch zu lernen und sich dann im Netz nach einem Job aus seinem Bereich zu bemühen, am besten in den Niederlanden. Dort hat die Landwirtschaft einen höheren Stellenwert als in anderen Ländern Europas, zugleich sind sie innovativ und offener.

Wieder auf dem Fahrrad wird mir bewusst, wie hilflos mein Ratschlag war. Das Leben ist verdammt beschissen, wenn man auf seiner Schattenseite geboren wurde.

Carlito und Carmela in der Kartonkiste

Auf der Passhöhe mache ich Rast. In den Bergen Bulgariens gibt es eine Vielzahl von Hütten aus Holz, die mit robusten Tischen, Bänken und einer Feuerstelle ausgerüstet sind. Die meisten sind sauber und fliessendes Wasser haben sie auch. Hier können Touristinnen und Lastwagenfahrer picknicken oder eine Siesta machen.

Es ist kühl geworden im Wald, und zum ersten Mal auf dieser Tour musste ich die Ärmlinge anziehen. Nachdem ich «Yellow Jeff» parkiert habe, schlüpfe ich in eine Trainerjacke und lege mein Mittagessen auf einer Serviette aus. Es gibt dunkles Brot, Wurst, eine Banane, Aprikosen und Pflaumen.

Ich habe Hunger und lange zu, während die mächtigen Baumkronen sich leise im Wind wiegen. Plötzlich höre ich ein leises Rascheln aus der Ecke. Dort steht eine Kartonkiste mit der Aufschrift «Chio». Sie war vermutlich improvisiert für Abfall gedacht gewesen, bloss liegt dieser frei verstreut um die Kiste herum.

Da raschelt es wieder aus der Kiste, und ich höre ein Geräusch, das ich nicht zuordnen kann. Ein kleines spitzes Ohr mit schwarzen Haaren kommt zum Vorschein.

So beginnen Horrorfilme.

Ich zwicke mich kräftig in den Arm. «Autsch!» Das haarige Ohr ist immer noch dort.

Langsam stehe ich auf und nähere mich vorsichtig der Kiste. Da schnellt ein Katzenkopf aus der Kiste und das Tier faucht bedrohlich. Ich erschrecke und weiche zurück. Die Katze hat einen schwarzen Kopf und eine weisse Schnauze. Sie lässt keine Zweifel aufkommen, wo die Grenze für Fremde ist. Ich bleibe stehen, bewege mich nicht und atme flach.

Da taucht ein zweiter Katzenkopf auf, dann ein dritter. Die Neugierde der beiden Kätzchen war grösser, sie wollen auch sehen, was ihre Mutter enerviert. Nach ein paar Sekunden verlieren sie das Interesse und verknäulen sich wieder ineinander.

Ich setze mich und esse weiter. Die Katzenmutter beginnt, mit ihren Jungen zu spielen. Dazwischen leckt sie sie mit ihrer rauen Zunge fürsorglich ab. Irgendeinmal hat sie genug von den Kleinen, die nicht müde werden, sich zu balgen, und richtet sich auf. Mit einem eleganten Satz lässt sie die Kartonkiste hinter sich. Dann dehnt und streckt sie sich ausgiebig. Grazil und ohne Scheu läuft sie an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten und erkundet die nähere Umgebung. Ganz offensichtlich geht sie davon aus, dass ich keine Gefahr mehr für ihre Jungen darstelle.

Kaum ist die Katzenmutter verschwunden, setze ich mich neben die Kartonkiste und kraule die Kleinen. Beide sind gut genährt und unendlich knuffig. Ich taufe sie Carlito und Carmela.

Carlito ist schwarz, nur Schnauze und Halspartie sind weiss. Er versucht immer wieder, auf die Hinterbeine zu stehen, verliert aber das Gleichgewicht und purzelt auf die Seite. Carmela hat ein weisses Fell mit einigen schwarzen Flecken. Sie findet es lustiger, auf ihren Bruder zu klettern und ihm in den Rücken zu beissen. Meine Hände, die abwechselnd mit den Kätzchen spielen und sie dann wieder streicheln, finden sie als Abwechslung ganz okay.

Was hier vor ein paar Stunden oder Tagen passiert ist, liegt auf der Hand: In beide Richtungen der Passstrasse gibt es auf 25 Kilometer keine Häuser, so weit weg entfernt sich keine Katzenmutter zum Werfen. Das Trio wurde ausgesetzt.

Es wiederholt sich vorab zu Beginn der Sommerferien: Haustiere werden den Menschen überdrüssig und schliesslich auf Autobahnraststätten oder im Wald kaltherzig ausgesetzt. Laut dem Schweizer Tierschutz werden jedes Jahr etwa 20’000 wieder aufgegriffen und in Tierheime oder Aufnahmestationen gebracht. Wie viele Tiere vorher umkommen oder verwildern, ist nicht bekannt.

PS:
– Natürlich dachte ich darüber nach, die Katzenfamilie bis ins nächste Dorf, zu einer Bauernfamilie, zu bringen. In einer Sacoche hätte ich genug Platz schaffen können. Die Kleinen hätte ich problemlos einpacken können, die Mutter hingegen hätte sich vermutlich heftig gewehrt.

– Die Raststätte, die ich hier zeige, ist nicht identisch mit derjenigen des «Tatorts», zwischen den beiden liegen etwa zehn Kilometer.

– Auf Instagram folgte ich während Jahren einem Bikepacker aus Belgien auf seiner Weltreise. Unterwegs war ein Kaninchen so zutraulich geworden, dass er es schliesslich mitnahm. Das Duo wurde unzertrennlich und das Kaninchen überall, wo der Radler stoppte, mit viel Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten eingedeckt.

Eine kleine Ode an Italien

Die letzten zehn Tage radelte ich mehrheitlich durch Teile des Piemonts, der Lombardei und der Provinz Emilia-Romagna. Zum Glück hatte ich vor dem Start ein paar Stunden für die Routenwahl investiert. Die Route ging durch endlose Weizenfelder und schmucke Städtchen mit viel Patina, ein paarmal auch durch Siedlungsbrei, grau und hässlich. Meistens war ich auf Nebenstrassen unterwegs, was wenig Verkehr und mehr Höhenmeter bedeutete, aber viel mehr Ruhe und Genuss brachte. Der Flow kam – täglich!

Der pralle Sommer begleitete mich von Domodossola bis vor Ancona. (Am elften Tag pausierte ich in Senigallia, und dann regnete es sanft.) Und noch etwas war allgegenwärtig: die Fröhlichkeit und Gelassenheit der Menschen, denen ich begegnet bin, in den Gasthöfen, auf dem Markt, im Lebensmittelladen oder, wie gerade vorhin, auf der Post, als ich ein Paket aufgab, was für sich alleine ein amüsantes Posting abgäbe. Damit wäre auch geklärt, dass ich die Triage doch noch gemacht habe.

Ich erinnere mich an keinen einzigen Raser, in unübersichtlichen Situationen waren die Automobilistinnen und Lastwagenfahrer rücksichtsvoll, nur einmal, in einem Kreisel, wurde mir der Vortritt verweigert. Ich war überrascht, wie viele gute Radwege es gibt. In Bologna beispielsweise führt eine Spur bis fast ins Stadtzentrum, ohne dass ich etwas vom übrigen Verkehr bemerkt hätte.

Und dann das Essen, amici: DAS ESSEN! In den letzten zehn Tagen habe ich und gut und viel gegessen. Die italienische Küche gilt zwar nicht als «haute cuisine», sie ist dafür währschaft und mit Liebe zubereitet – darum geht’s. Teil des Erfolgs ist das Personal: Die Leute im Service lieben, was sie tun. Ich erlebte sie als aufmerksam, charmant und umsichtig, und ja, sie wussten intuitiv um meinen süssen Zahn. Selten kam ich ohne Dolci davon – was soll’s, nach einer halben Stunde im Sattel ist der Zucker wieder weggestrampelt!

Zwei kurze Geschichten will ich euch nicht vorenthalten. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass ich diese kleinen Ode an Italien schreibe und mit etwas Wehmut die Fähre über die Adria nach Kroatien nehme.

Das Wasserbidon ist leer, der Magen hat zu knurren begonnen, ich komme in der Bruthitze kaum noch voran. Als stoppe ich beim nächstbesten Restaurant und stelle «Yellow Jeff» in den Schatten eines 28-Tönners. Unter dem Vordach sitzen Männer in Unterhemden vor grossen Portionen. Sie schwatzen und alle scheinen sich zu kennen – benvenuti in der Lastwägeler-Beiz.

Kaum habe ich bestellt, will der Chauffeur nebenan etwas über mein Velo wissen. Die anderen hören zu, und dann geht es los mit ihren Fragen: Woher? Wohin? Warum? Ob das denn Ferien seien? Ich muss mich konzentrieren und bringe viele Antworten nur radebrechend hin, zuweilen hilft der Unterbau in Spanisch. Die Italiener stört das nicht, sie haben ein echtes Interesse an diesem ciclista aus der Schweiz. Aber irgendeinmal ist auch die zweite Runde Kaffee durch, sie stehen auf, klopfen mir mit ihren Pranken auf die Schultern und verabschieden sich wie alte Bekannte.

Sie hat kein italienisches Blut und ursprünglich einen anderen Namen

Vera hat dunkle Locken, Pfiff und ein offenes Antlitz. In ihren Adern fliesst kein italienisches Blut und sie hatte ursprünglich einen anderen Namen. Sie ist sich bewusst, dass niemand auf sie gewartet hat und sie mehr leisten muss als andere, um mit ihren Leben voranzukommen. Viel mehr.

Sie hat einen Job und vermietet nebenher ihre Wohnung auf der Plattform von AirBnB, um den Lohn aufzubessern. Das Geschäftliche wickelt Vera effizient und zugleich herzlich ab. Ihre Wohnung hat sie mit wenig Geld, aber viel Geschmack eingerichtet. Überall stehen Blumen – echte Blumen, währenddessen es in den meisten anderen AiBnB solche aus Plastik hat! –, und es riecht nach Sonne. Die Schranktüren in der Küche sind aus Schiefer, so dass sich die Gäste mit Kreide kreativ austoben können – und das taten sie! (Ich Dösel fand das so cool, dass ich die Werke zu fotografieren vergass.) Ihre Wohnung ist wie ein richtiges Zuhause. Wenn Vera Touristen beherbergt, schläft sie bei Bekannten. Veras Geschichte ist diejenige vieler Migrantinnen in Italien.

PS:
Damit ich doch noch etwas kritisiere: Zwei Sachen können sie nicht in Italien: Frühstück und Salatsauce.

«I’m addicted to the flow»

The pandemic years are history – hopefully for good. So it’s high time for a large bike trip. All the way from Switzerland to Iran has been on my bucket lists for a many years. Soon, I should be ready to hit the road together with my loyal partner, Yellow Jeff. Office mate Suppino asked me a couple of questions about this journey. 

So, it’s for real, Mark, you’re going to Tehran?

Nope, dude, I’m not going, I’m cycling, C-Y-C-L-I-N-G.

Okay. But why on earth did you chose Tehran?

Well see, Taipeh and Tokyo are simply too fare away from Switzerland. At least for me. (Twinkering with his eyes.)

Would you mind giving proper answers?

Sure, Suppino, would you mind posing smarter questions? (Office mate Suppino is rolling his eyes big time.)

What made you chose the capital of Iran?

Frankly, I don’t care about Tehran, it’s the country. I heard and red from so many cyclists that Iran is stunning – in terms of landscape as well as the hospitality of it’s people. The same applies for Turkey, Armenia and Georgia. I’m truly hoping I can make it, the right knee is my weak spot.

But then, why don’t you fly to Istanbul or Ankara and start cycling there?

There you got a point. But you should not underestimate the beauty of starting a biketrip right in front of your house. The second reason: I’m very curious about the countries in the Balkans. In the nineties, I worked a couple of years in Sarajevo. So, I want to go back, Sarajevo holds a special place in my heart.

It’s an epic trip to Tehran. Are you in shape to ride some 6000 kilometres?

My daily workout happens in the indoor swimming pool. But see, there’s no need to be in a good shape before you start. The good shape comes while you’re cycling. There’s no rush, my bike trips are not about getting there. It’s all about being on the road, it’s about nature, meeting people, food and it’s about the flow. I confess that I’m addicted to the flow as much as I’m addicted to winter swimming in the river (mostly the Aare in Berne). By the way, it’s possible that I’m taking a bus if the weather is bad or I’m exhausted. (Office mate Suppino recalls silently that Mark stressed C-Y-C-L-I-N-G at the beginning of this interview. But since he’s a nice guy he keeps it for himself.)

Talking about people. You’re travelling alone.

Correct. Cycling alone offers two great things: Firstly, you deal intensely with yourself, at the same time you’re open to others or to be approached by others. The countries I’ll be passing, people are warm hearted and they are not rushing through their lives as most of us do in the Western world.

Six years ago, you cycled from Berne to North Cape. What are your learnings from this trip?

I learned a lot, indeed. But what counts is something else: Cycling is freedom.

You’ve got your on company. How do you handle it while you’re on the road?

In fact, this bike trip is a gift since my company turns 20 this year. Business colleagues in my network are taking care of some of my clients, other take a long summer break. Keeping things «on hold» for a while shall be a win-win situation.

Pictures from Marks bike trip will be posted on Instragram.

Mit Mathe und Pasta auf den Stelvio

Das Hochkurbeln am Passo dello Stelvio ist zunächst simple Mathematik: Nach einer Haarnadelkurve hast du 1/48 hinter dir, nach zwei bereits 1/24, nach drei 1/16. Kurz und gut: Die Zahlen verkleinern sich also flott. Deutlich weniger flott war gestern das Tempo beim Aufstieg von Prad her.

Egal, das Rechnen motivierte mich bis zur Kurve Nr. 25 – dann versagten meine Fähigkeiten und ich geriet aus dem Tritt. (25/48 sind nicht greifbar, mehr als die Hälfte wiederum zu profan!) Die Passhöhe war zwar bereits in Sicht, aber noch weit, weit, verdammt weit oben. Es fehlten noch etwa 900 Höhenmeter. Also musste eine neue Ablenkungsübung her.

Ich erfand neue Pastasorten, konkreter: die Namen. Das passt, ich bin ja in Italien. Ein paar Beispiele: Papardelle mixtura tutti frutti, Tre colori per i championi della strada, Suegrone naturale con arome di Parma, Reggaetone giamaicano virtusoso, usw.

Alle Namen probierte ich mit kräftiger Stimme aus. So wurde immer sofort klar, ob sie rund klingen oder noch geschliffen werden mussten. Kurz: Ich redete fast die ganze Zeit vor mich hin, was viele Radfahrer, die mich überholten, zu irritieren schien. Auf alle Fälle guckten sie mich komisch an. «Was halluziniert der am Berg – komplett unterzuckert oder einfach wirr im Kopf?»

Mich kratzte das nicht die Bohne, der Zweck heiligt die Mittel – eco!

Irgendeinmal kam ich auf der Passhöhe an, geschafft, happy und hungrig. Nach dem obligaten Selfie gönnte ich mir Currywurst mit Pommes. Einmal am Tag sollte man auf Velotouren ja gesund essen.

P.S. Den Trick mit den Pastasorten wende ich wieder an, denn der nächste Pass kommt bald, stuzzi cadenti!

Du dumme Kuh, du!


Auf anspruchsvollen Velotouren
werden meine Beine gegen Schluss oft schwer. Oder es kommt ein fieser Hoger. Viele Radfahrerinnen und Radfahrer schwören in solchen Situationen auf Energieriegel. Eine gute Kollegin weiss sich anderweitig zu helfen: Sie zählt stumm und im Rhythmus auf vier, immer wieder aufs Neue. Wenn es sein muss, zieht sie das durch, bis sie ihr Tagesziel erreicht hat.

Diese Technik probierte ich übers Wochenende aus, als ein Aufstieg nicht mehr enden wollte, die Kraft aber zusehends schwand. «Eins, zwei, drei, vier», murmle ich leise leidend vor mich hin. Die Zahlen nenne ich stets dann, wenn das linke Knie gestreckt ist. Nach wenigen Minuten wird mir das zu monoton. Also ergänze ich mit Fremdsprachen. Dazu nehme ich Bosnisch und Dänisch, weil ich in beiden Sprachen zählen und fluchen kann.

eins – zwei – drei – vier
uno – due – tre – quattro
un – deux – trois – quatre
un – dos – tres – cuatro
one – two – three – four
jedan – dva – tri – cetiri
en – to – tre – fire

Die Ablenkung wirkt, das Velofahren ist weniger anstrengend als zuvor, der Schweiss fliesst weiter. Ich suche eine weitere Herausforderung und wechsle die Sprache nach jeder Zahl, also zum Beispiel «Eins, dos, tri, quatre».

Die neue Methode verlangt meine volle Konzentration, zum Glück fahre ich nur langsam bergan. Ich zähle jetzt mit halblauter Stimme und habe meinen Blick stur auf das Vorderrad geheftet. Mein Hirn muss hart arbeiten.

Plötzlich zucke ich zusammen: Vor mir sind lange graue Beine aufgetaucht, geistesgegenwärtig ziehe ich die Bremsen. Einen knappen Meter vor dem Viech kommt mein Göppel zum Stillstand. Mein Herz schlägt laut, die Kuh, die vor mir steht, glotzt mich nur dumm an. Auf ihrer Nase krabbeln Fliegen herum. Bockstill steht sie auf dem Strässchen und glotzt mich einfach unverwandt an. Ob es an meinem Velodress liegt, der an Borat erinnert?

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen bin, bemühe ich aus unerfindlichen Gründen den Balkan-Slang: «Ey, du Chueh, du! Putz di uf d Site, Mann! Ich mues do dure, Mann!»

Die Kuh macht keinen Wank. Sie glotzt mich nur an.

Ich hätte «Jellow Jeff» links oder rechts um die Kuh herumstossen können, dann aufsitzen und wieder lospedalen. Aber das gibt mir der Kopf nicht zu, ich will Kuhbändiger sein.

Es muss ein Mix aus Erschöpfung, viel Sonne und Höhenluft sein: Plötzlich brechen aus mir Fluchwörter heraus, viele Fluchwörter – auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Dänisch und Bosnisch. Ich f l u c h e mit lauter Stimme, kunterbunt durcheinander und vermutlich fuchtle ich auch mit den Händen herum.

Plötzlich versiegt der Schwall, es ist wieder still. Die Sonne brennt und die Fliegen krabbeln immer noch auf der Nase herum. Der Kuh ist die Sache offenbar nicht mehr geheuer. Sie wendet sich ab und trottet davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Fazit:
Ich erreichte mein Tagesziel, habe eine neue Ablenkungsmethode für mich entdeckt, die allerdings nicht ganz gefahrlos ist, und bin jetzt Dumme-Kuh-Bändiger. Von Sachverständigen liess ich mir inzwischen erklären, dass Kühe keine Fluchttiere sind.