Seit Monaten hat sich ein Mob auf Nemo eingeschossen. Aus dem Nichts kommt das nicht. Dennoch sollten Medien und PR-Leute verantwortungsvoller mit dem Star aus Biel umgehen. Der Abbruch eines Interviews mit ihm schadet letztlich allen.
Direkt nach dem Auftritt am Lakelive Festival sprach Nemo mit dem «Bieler Tagblatt». Als die Journalistin eine Frage zum «politisch aufgeladenen ESC» in Malmö stellte, intervenierte die Presseverantwortliche des Stars. Schliesslich brach Nemo das Gespräch ab, weil «sich jede Frage wie eine Provokation anfühlt». Am Samstag wurde das Rumpf-Interview publiziert und schlägt seither Wellen. (Es ist hier als PDF verlinkt.)
Natürlich, es gehört zum Job der Journalistinnen und Journalisten, Fragen zu stellen. Natürlich, Interviews sollen kritisch sein. Tatsache ist, dass sie es in den Bereichen Sport, Kultur und Showbusiness oftmals nicht sind, weil den Medienschaffenden die Distanz fehlt oder sie sogar Fans sind. Selbst Roger Schawinski, der härteste Talker der Nation, stellte keine harten Fragen mehr, als er Emil zu Gast in seiner Sendung hatte.
Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Sängerinnen wollen alle dasselbe: in den Medien gut herüberkommen. Vor, während und nach Interviews tun sie und ihre Entouragen alles, um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollen die Bedingungen diktieren, Redaktionen lassen sich nicht selten darauf ein, weil sie Prominenz und Exklusivität hoch gewichten. Das Resultat sind glattgebügelte Interviews, die uns beim Lesen langweilen.
Ich habe früher oft über Musik geschrieben und viele Interviews geführt, etwa mit Marla Glen, Kuno Lauener, 4 Non Blondes oder Gianna Nannini. Das war manchmal beglückend und manchmal zäh. Und manchmal sagten die Stars Dinge, die sie in die Bredouille gebracht hätten. Ich liess allzu Provokatives oder Unreflektiertes stets weg – zuweilen müssen Künstlerinnen und Künstler vor sich selbst geschützt werden.
Der Fall von Nemo ist anders gelagert: Das Talent aus Biel wird seit Monaten im grossen Stil mit Bösartigkeiten und Hass eingedeckt: Zum einen, weil es nicht-binär ist und ein drittes Geschlecht propagiert, zum anderen, weil es beim ESC den Boykottaufruf gegen Israel mitgetragen haben soll.
Nemo zu den Vorgängen in Malmö keine kritischen Fragen zu stellen, wäre unjournalistisch, natürlich, aber die Medien haben auch eine Verantwortung, nicht unnötig Öl ins Feuer zu giessen. Was im «Bieler Tagblatt» seinen Anfang nahm, hat den Mob sofort mobilisiert.
Keine überzeugende Rolle spielte Nemos Management: Zunächst legte es schriftlich fest, dass die Journalistin auf politische Fragen verzichten solle, rückte aber später wieder davon ab. Zudem verzichtete es darauf, das Interview zurückzuziehen.
Was wir nicht vergessen sollten: Nemo ist gerade einmal 25 Jahre alt und erst seit dem letzten Mai auf der Weltbühne. Im eigenen Lager ist Nemo eine Ikone, für andere eine Hassfigur, allein der Name triggert enorm. Das legt nahe, einen anderen Massstab anzuwenden, als beispielsweise bei Karin Keller-Sutter, die seit 24 Jahren Berufspolitikerin ist.
Foto: Benjamin Ramsauer, SRF
Dieser Beitrag ist zuerst bei «Persönlich», dem Portal der Kommunikationsbranche, erschienen.