Bertschi, Balsiger, blaue Augen

Seit bald 20 Jahren versuche ich zu eruieren, wieso Newcomer Hugo Hugentobler gewählt wurde, währenddem Fredy Fretz, der Kronfavorit derselben Partei, auf der Strecke blieb. Was machte Kandidatin Doris Dosenbach besser als Balbina Bally?

Aus diesen Fragen wurde in den Nullerjahren eine grosse Studie, die ich an der Uni Bern erarbeitete. 1500 Kandidatinnen und Kandidaten, die in den Nationalrat gewählt werden wollten, stellte ich dieselben 70 Fragen – das Codieren und Auswerten war eine Mordsbüez. So entstand schliesslich das 26-Erfolgsfaktoren-Modell, will heissen: es gibt insgesamt 26 Faktoren, die in einem Wahlkampf eine Rolle spielen.

Das Aussehen ist ein Erfolgsfaktor. Georg Lutz, inzwischen Politologieprofessor an der Universität Lausanne, kam 2007 in einer grossen Feldstudie zum selben Schluss: «Gutaussehende Kandidatinnen und Kandidaten erhalten mehr Stimmen.»

So viel zur Vorgeschichte.


Am 23. Oktober letzten Jahres kommentierte ich beim Regionalsender Tele M1 als Expertli die Aargauer Wahlen. Eine der Überraschungen dieses Wahltages: Karin Bertschi aus dem Bezirk Kulm, damals 26 Jahre alt, wurde aus dem Stand gewählt, routinierte SVP-Kämpen liess sie hinter sich.

Sie sei «ein politisches Greenhorn», gestand sie freimütig. Die Medien hatten aber zuvor dafür gesorgt, dass Bertschi einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Der Boulevard liebt die «Recycling-Prinzessin», sie führt in Reinach (AG) eine Recyclingfirma und nutzt den Boulevard. Sie tut es sympathisch. Als Prinz oder hochbezahlter Berater hätte ich ihr allerdings nahegelegt, die Fotosessions am Arbeitsplatz mit «Blick», «Schweizer Illustrierten» & Co. im Overall oder in Jeans zu bestreiten. Bilder sollten stimmig sein.

Doch zurück zum Wahltag: Bei der Instant-Analyse mit Tele-M1-Moderatorin Sabrina Müller dampfte ich den Erfolg Bertschis auf einen 20-Sekünder ein: «Sie ist jung, fotogen und ein kleiner Medienstar. In dieser Kombination reicht das für eine Wahl.» Die wissenschaftliche Erkenntnis schob ich hinterher – zum Glück.

Am letzten Dienstag wurde mein Zitat im „TalkTäglich“ von Tele M1 rezykliert, zu Gast war: Karin Bertschi. Konfrontiert mit meiner fast 14 Monate alten Einschätzung konterte sie:

«Ist Herr Balsiger nur frustriert, weil er als Mann geboren wurde, keine blauen Augen und Rapunzelhaare hat?» Und fügte an: «Wenn seine These wahr wäre, müssten im Grossen Rat ja lauter Miss-Schweiz-Kandidatinnen sitzen.»

Die «Aargauer Zeitung» gehört zur selben Mediengruppe wie Tele M1 (Peter Wanners AZ Medien). Wie alle anderen Medien ist sie erpicht darauf, möglichst viele Klicks zu generieren. Dazu eignet sich Videocontent vorzüglich. Menschen mögen bewegte Bilder, Algorithmen auch. Also hat die AZ den Talk zusammengefasst und zwei Videosequenzen integriert. Der Titel dieser Story:

Nun, liebe Frau Bertschi, Sie werden zu diesem Blog-Posting finden, weil Politikerinnen in der Regel etwas eitel sind, Politologen übrigens auch, und deshalb wende ich mich direkt an Sie. Klären wir doch diese Sache mit einem Augenzwinkern:

Sie haben blaue Augen – me too. Seit 50 Jahren. Meine blinzeln seit jeher lebenslustig in die Welt, la vita e bella. Das mit der Frustration will also auch nicht passen, und stellen Sie sich vor: ich bin gerne Mann. Bleiben die Rapunzelhaare. Ich musste herzhaft lachen, als Sie dies im Gespräch mit Moderator Rolf Cavalli erwähnten. Sehen Sie, in meinem Alter ist Mann schon zufrieden, wenn auf dem Kopf überhaupt noch etwas spriesst.

Über ihre Wahl habe mich übrigens gefreut! Ich freue mich für jede Frau, die in ein politisches Amt gewählt wird, egal zur welcher Partei sie gehört. Es gibt zu wenig Frauen in der Politik! Testosterongesteuerte Politik bringt uns nicht weiter, egal ob im Bundeshaus oder im Unterwallis.

Der 20. Oktober 2019 ist in meiner Agenda vorgemerkt. Dann finden die nächsten eidgenössischen Wahlen statt. Wenn Sie bis dann noch einen Strick in der Politik zerreissen, werden Sie den Sprung in den Nationalrat vermutlich schaffen. Hoffentlich erhöht das auch den Frauenanteil in der SVP-Fraktion. Zurzeit liegt er unter 20 Prozent.

P.S.
Liebe Leser (m) und Gwundernasen (w/m), der wahre Grund für diesen Text: Ich wollte aufzeigen, wie das Clickbaiting der Medien funktioniert. Den Teaser platzierte ich auf meinem Facebook-Profil.

Zum Abgang gibt’s noch etwas Vox Populi:

Eine Auswahl der Online-Kommentare in der «Aargauer Zeitung» vom 6. Dezember 2017.

#EgoPost #TeleM1 #KarinBertschi #WahlAG16 #nrw19 #Clickbaiting

Der Mann, der stumm wie ein Fisch blieb

Dieses Ereignis jährt sich heute zum 15. Mal – und es legte einen wichtigen Stein für meine Tätigkeit.

Ich war damals Redaktor bei Radio SRF (hach, DRS….). Nach der Morgensitzung vertiefte ich mich in ein Thema und versuchte, mich schlau(er) zu machen. Alsbald hatte ich jemanden am Telefon, der klar, verständlich und mit einer angenehmen Stimme erklärte, was Sache ist. „Bingo!“, jubelte ich innerlich, „das wird mein Studiogast.“

Gedacht, getan. Ich fragte den Experten, ob er Zeit habe, vorbeizukommen. Längere Beiträge kämen besser rüber, wenn die Gäste in Studioqualität sprechen würden. Er willigte ein und stand am frühen Nachmittag pünktlich vor der Türe. Ein Händedruck, eine Begrüssungsfloskel, ein kurzes gegenseitiges Abchecken und schon hatte ich die Kaffeemaschine in Gang gesetzt.

Im Vorgespräch vermittelte er mir strukturiert und empathisch weitere Hintergründe, und wir steckten die Stossrichtung des Gesprächs ab. Frohgemut führte ich meinen Gast ins Aufnahmestudio, reichte ihm einen Kopfhörer, pegelte die Lautstärke ein, startete das Band (eine Bandmaschine von Revox, hell!) und stellte meine erste Frage. Stille. Mein Vis-à-vis öffnete seinen Mund… langsam, wie in Zeitlupe, schloss ihn wieder, um ihn alsbald erneut zu öffnen. Allein: er brachte keinen Ton über die Lippen.

Ich lächelte ihm aufmunternd zu, machte einen flapsigen Spruch und stellte die Frage erneut. Stille. Wieder blieb mein Gast stumm wie ein Fisch. Gequält blickte er mich an. „Das ist Filippo Leutenegger bei einer Live-Schaltung in die ‚Tagesschau’ auch einmal passiert, als er noch Italien-Korrespondent war. Sie sind also in guter Gesellschaft“, versuchte ich Druck von ihm wegzunehmen. Er schluckte leer und blieb auch beim dritten Versuch stumm, sein Gesicht war inzwischen rot angelaufen.

„Machen wir doch eine Pause, das kann den Knopf lösen“, schlug ich vor. In der Cafeteria trank er ein Glas Wasser, sein Sprechstau war weg, meine Zuversicht stieg. Wieder setzten wir uns ins Aufnahmestudio, „Band läuft!“, ich stellte eine andere Frage – Stille. Mit hängenden Schultern guckte mich mein Gast an. Hilflos. Verschämt. Auch die weiteren Versuche blieben erfolglos.

Schliesslich notierten wir auf Flipcharts die wichtigsten Stichworte – pro Frage ein Blatt. Mit diesem Hilfsmittel und viel Geduld brachten wir schliesslich doch ein paar Antworten auf Band. Brauchbar waren sie nicht: Der Mann stotterte sich durch seine Sätze, seine Aussagen hatten kaum einen roten Faden, die Stimme verlor manchmal ihren Ton. Ich bedankte mich und er verabschiedete sich hastig. Wir beide wussten, dass ich keine einzige Antwort dieses Interviews verwenden konnte.

Ich war deprimiert. Es darf nicht sein, das jemand, der etwas zu sagen hätte, es nicht sagen kann. Zwei Jahre nach diesem Erlebnis gründete ich meine Firma, eines unserer Angebote sind… Kommunikationstrainings. In der Zwischenzeit habe ich über 300 solche Trainings gegeben und ich tue es weiterhin sehr gerne.

Wie ein solches Training mit uns grosso modo abläuft, zeigt ein Beitrag des Regionalsenders „TeleM1“. Er ist zwar nicht mehr taufrisch, eignet sich aber ganz gut für die Selbstpromo. Nebenbei: Rund 75 Prozent aller Trainings geben wir Leuten aus einem nicht-politischen Umfeld.

 

 

 

Wenn ein Linker mit dem linken Fuss aufsteht

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Dienstagabend, kurz vor sechs
, Telli-Quartier Aarau. Im Studio von “TeleM1” soll “TalkTäglich” in Szene gehen. Der Aargauer SVP-Chef Thomas Burgherr, gepudert, Gesprächsleiter und AZ-Chefredaktor Christian Dorer, gepudert, und das Expertli für politische Winkelzüge, gepudert – alle sind bereit. Die Kameramänner sowieso.

Einer fehlt: SP-Nationalrat Cédric Wermuth. 18.02 Uhr. Wermuth ruft an. Er habe in Bern den falschen Zug erwischt und sei nun in Liestal…

Murphy lächelt süffisant, Wermuth hechtet in ein Taxi und donnert via Frick und die Staffelegg nach Aarau. Der Kampf um die Minuten beginnt, die Sorgenfalten des Aufnahmeleiters werden grösser, der Talk wird künstlich nach hinten geschoben, Wermuth trifft ein, hat zu wenig Geld für das Taxi, Dorer hilft aus – und schon sind wir auf Sendung.

Nach der Aufnahme bekennt Wermuth, er sei mit dem linken Fuss aufgestanden und fragt in die Runde: “Ist heute Vollmond?”

Merke: Politiker sind zwar immer im richtigen Film, aber gelegentlich nicht im richtigen Zug.