Du dumme Kuh, du!


Auf anspruchsvollen Velotouren
werden meine Beine gegen Schluss oft schwer. Oder es kommt ein fieser Hoger. Viele Radfahrerinnen und Radfahrer schwören in solchen Situationen auf Energieriegel. Eine gute Kollegin weiss sich anderweitig zu helfen: Sie zählt stumm und im Rhythmus auf vier, immer wieder aufs Neue. Wenn es sein muss, zieht sie das durch, bis sie ihr Tagesziel erreicht hat.

Diese Technik probierte ich übers Wochenende aus, als ein Aufstieg nicht mehr enden wollte, die Kraft aber zusehends schwand. «Eins, zwei, drei, vier», murmle ich leise leidend vor mich hin. Die Zahlen nenne ich stets dann, wenn das linke Knie gestreckt ist. Nach wenigen Minuten wird mir das zu monoton. Also ergänze ich mit Fremdsprachen. Dazu nehme ich Bosnisch und Dänisch, weil ich in beiden Sprachen zählen und fluchen kann.

eins – zwei – drei – vier
uno – due – tre – quattro
un – deux – trois – quatre
un – dos – tres – cuatro
one – two – three – four
jedan – dva – tri – cetiri
en – to – tre – fire

Die Ablenkung wirkt, das Velofahren ist weniger anstrengend als zuvor, der Schweiss fliesst weiter. Ich suche eine weitere Herausforderung und wechsle die Sprache nach jeder Zahl, also zum Beispiel «Eins, dos, tri, quatre».

Die neue Methode verlangt meine volle Konzentration, zum Glück fahre ich nur langsam bergan. Ich zähle jetzt mit halblauter Stimme und habe meinen Blick stur auf das Vorderrad geheftet. Mein Hirn muss hart arbeiten.

Plötzlich zucke ich zusammen: Vor mir sind lange graue Beine aufgetaucht, geistesgegenwärtig ziehe ich die Bremsen. Einen knappen Meter vor dem Viech kommt mein Göppel zum Stillstand. Mein Herz schlägt laut, die Kuh, die vor mir steht, glotzt mich nur dumm an. Auf ihrer Nase krabbeln Fliegen herum. Bockstill steht sie auf dem Strässchen und glotzt mich einfach unverwandt an. Ob es an meinem Velodress liegt, der an Borat erinnert?

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen bin, bemühe ich aus unerfindlichen Gründen den Balkan-Slang: «Ey, du Chueh, du! Putz di uf d Site, Mann! Ich mues do dure, Mann!»

Die Kuh macht keinen Wank. Sie glotzt mich nur an.

Ich hätte «Jellow Jeff» links oder rechts um die Kuh herumstossen können, dann aufsitzen und wieder lospedalen. Aber das gibt mir der Kopf nicht zu, ich will Kuhbändiger sein.

Es muss ein Mix aus Erschöpfung, viel Sonne und Höhenluft sein: Plötzlich brechen aus mir Fluchwörter heraus, viele Fluchwörter – auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Dänisch und Bosnisch. Ich f l u c h e mit lauter Stimme, kunterbunt durcheinander und vermutlich fuchtle ich auch mit den Händen herum.

Plötzlich versiegt der Schwall, es ist wieder still. Die Sonne brennt und die Fliegen krabbeln immer noch auf der Nase herum. Der Kuh ist die Sache offenbar nicht mehr geheuer. Sie wendet sich ab und trottet davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Fazit:
Ich erreichte mein Tagesziel, habe eine neue Ablenkungsmethode für mich entdeckt, die allerdings nicht ganz gefahrlos ist, und bin jetzt Dumme-Kuh-Bändiger. Von Sachverständigen liess ich mir inzwischen erklären, dass Kühe keine Fluchttiere sind.

Auge in Auge mit dem Justizminister

Mittwochmorgen. Irgendwoher erklingen sieben Glockenschläge durch das Halbdunkel. Ich radle gut gelaunt und in gemächlichem Tempo zur Arbeit. Linker Hand der Bundesplatz, rechts das legendäre „Café Federal“.

Vor der Berner Kantonalbank biege ich scharf links ab. Unvermittelt treten zwei Gestalten auf die Strasse! Ich ziehe eine Vollbremse. Es reicht um zwei Haaresbreiten. Die vordere Person merkt von allem nichts. Sie scheint noch zu dösen und trottet auf die andere Strassenseite. Bei der zweiten Person mache ich zuerst eine hängende Unterlippe aus. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um – für eine Sekunde blicken wir einander an, Auge in Auge. Als ich ihn erkenne, stockt mir der Atem. Danach bringe ich ein schwächliches „Göht nume wiiter“ heraus. Angelerntes Berndeutsch.

Wortlos überquert Bundesrat Christoph Blocher die Strasse. Auf der anderen Seite wartet sein Leibwächter.

Im leichten Wind der Weiterfahrt finde ich: „Irgendwie sympathisch, dass auch ein Justizminister sich nicht immer haargenau an die Gesetzgebung hält.“ Der Kritikus in mir hingegen moniert: „Das wäre deine Chance gewesen. Ganz malziös hättest du auf den Fussgängerstreifen, 20 Meter nebenan, hinweisen können – die Krönung eines jungen Tages.“

Auch Bürokollege Suppino kritisiert: „Hättest du doch den Blocher über den Haufen gefahren! Du warst ja im Recht.“ Nun, was wäre passiert, wenn ich den Justizminister mit 15 Stundenkilometern angefahren hätte? Mein Stadtvelo, Jahrgang 1995, Marke Villiger, und ich versus Blocher, den Titan der Schweizer Politik, 90 Kilogramm schwer und 66 Jahre alt.

Wäre der Rahmen gebrochen? Blocher tonlos zu Boden gegangen? Der Radfahrer mit einem Salto über den Lenker auf das Pflaster geknallt? Wären wir beide wieder im Spital erwacht? Nebeneinander? Hätten wir Duzis gemacht?

Denken wir an die Schlagzeilen: „Wahlkämpfer bringt Blocher zu Fall!“ Schweizweite Bekanntheit für einen Tag. Es soll Menschen geben, die die Schweiz retten wollen. Ich rettete Blocher – vor ein paar blauen Flecken und Prellungen. Allenfalls vor gebrochenen Rippen.

Christoph Blocher nicht von den Beinen zu holen war eine wahlkämpferische Tat. Vermutlich nicht meine schlechteste in diesem Jahr.

 

 

Die Illustration dieses Blog-Postings machte Lorenz «Lopetz» Gianfreda vom Büro Destruct. Vielen Dank.