Wer Sascha Ruefer kritisiert, sollte auch die Rolle des Filmregisseurs hinterfragen

Sascha Ruefer liebt das Spektakel im Fussballstadion. Über Ostern geriet er selbst in den Strudel eines üblen Spiels, bei dem es um Rassismusvorwürfe und journalistische Ethik geht. Bislang wenig beleuchtet wurde die Rolle der Regisseurs, der den Dokfilm realisierte. Hätte der TV-Kommentator allerdings drei Punkte beachtet, wäre er nicht ins Offside getappt.


Während der Fussball-WM
in Katar gibt Ruefer dem Regisseur eines Dokfilms über die Schweizer Fussballnationalmannschaft ein Interview. Simon Helbling dreht dort im Auftrag von SRF für den Sechsteiler «The Pressure Game – im Herzen der Schweizer Nati». Der offizielle Teil dauert 45 Minuten. Für die Schnittbilder führen die beiden das Gespräch auf der Couch weiter, was weitere 20 Minuten Rohmaterial abwirft. In diesem «Off the record»-Teil machte Ruefer eine Aussage, die ihm jetzt um die Ohren fliegt.

Die ominöse Aussage wurde geleakt und landete schliesslich bei der Wochenzeitung WOZ, die am Gründonnerstag ihren Artikel mit dem Titel «Der Schweizermacher» lanciert. Bei ihr lautet das Zitat so: «Granit Xhaka ist vieles, aber er ist kein Schweizer.» Die WOZ reisst es aus dem Kontext und gibt ihrer Story einen eigenen Spin. Die Aussage sei «klar rassistisch», schreibt sie. Inzwischen ist der Kontext geklärt: Ruefer sprach nicht über die Person Xhaka, sondern über dessen Führungsverständnis als Kapitän der Nationalmannschaft.

Der Rassismus-Vorwurf zusammen mit den Reizfiguren Ruefer und Xhaka – dieser Mix ist explosiv. Auf Twitter zoffen sich alsbald Rassismus-Expertinnen und Fussballfans, die genau wissen, was richtig und was falsch ist. Über journalistische Standards wissen sie weniger Bescheid. Andere Medien ziehen nach, Clickbait winkt von der Seitenlinie und ein Sportjournalist gibt den TV-Star bereits zum Abschuss frei («Ohne Gegenbeweis ist SRF-Reporter Sascha Ruefer kaum zu retten»). SRF, Ruefer und die private Produktionsfirma gehen zunächst auf Tauchstation, der Brand greift um sich.

Schlaglicht auf die Krisenkommunikation: Am Gründonnerstag sortieren sich SRF und Ruefer. Am Karfreitag laden sie ein paar routinierte Sportjournalisten von «Blick», «Tages-Anzeiger», NZZ, CH-Media sowie «20 Minuten» ein und zeigen ihnen die Rohversion des Gesprächs, also die vollen 65 Minuten. Das stellt endlich den richtigen Kontext her – und wirkt: die Berichterstattung ist seit Samstag differenzierter, Ruefer wird entlastet.

Was ein paar Medien in der ersten Phase lieferten, war kein Ruhmesblatt. Ruefer ist allerdings selbst schuld, dass er ins Offside tappte. Drei Punkte, die bei Interview-Settings immer gelten:

– Schlüsselfiguren sollten stets einen «Watchdog» dabeihaben, das heisst eine Fachperson, die zusieht und genau zuhört. Ist eine Aussage problematisch oder falsch, interveniert sie sofort, also unschweizerisch direkt. Das ist in Doha genauso möglich wie in Diessenhofen oder Dublin.

– Auch in einem Dokfilm ist Kürze gefragt. Bei Interviews braucht es einen klaren Fokus und wenige Fragen dazu. Der Fokus wird im Vorfeld gemeinsam geklärt. Wer sich in ein langes Gespräch verwickeln lässt, kann ins Plaudern kommen. Routine und Selbstgefälligkeit sind in solchen Fällen gefährlich.

– Jedes Interview besteht aus einem Vorgespräch (hinter der Kamera, ohne Aufzeichnung!), dem eigentlichen Interview und einem dritten Teil, der sogenannte Einführungs- und Schnittbilder liefert. Sie zeigen den Gast beispielsweise lesend oder diskutierend. Wenn ich als «Watchdog» engagiert bin, lege ich stets im Vorfeld fest, dass im Nachgespräch ein unverfängliches Thema besprochen wird, etwa der letzte Urlaub. Keinesfalls darf es sich um das Hauptthema drehen.

Viele Regisseure zeichnen «off the record» auf – absichtlich

In Ruefers Fall wurden die Kameras nach dem Interview nicht gestoppt, das Gespräch ging aber «off the record» weiter. Viele Filmregisseure gehen absichtlich so vor, weil sie wissen, dass ihre Interviewpartner nach dem offiziellen «Schluss – das war’s!» entspannter antworten. Fakt ist, dass es journalistische Standards verletzt, wenn Aussagen aus einem «Off the record»-Gespräch verwendet werden. In der ersten Version von «The Pressure Game» war das ominöse Zitat drin.

Aus dem 65-minütigen Gespräch mit Ruefer schafften es nur ein paar wenige Quotes in den Film. Dass in der ersten Version just das problematische Zitat dabei war – aus dem Kontext gerissen –, mag Zufall sein. Vielleicht wollte Regisseur Helbling aber bewusst Öl ins Feuer giessen, zumal sich Ruefer schon seit Jahren an Xhaka reibt. Wäre die erste Version ausgestrahlt worden, hätte das zu einer kompletten Eskalation geführt.

Beim Autorisieren machte Ruefer die Produktionsfirma darauf aufmerksam, dass der ominöse Satz missverstanden werden könne und «off the record» gefallen sei. Daraufhin wird die Aussage aus der Rohschnittversion entfernt.

Regisseur Helbling veröffentlichte am Montagabend eine Stellungnahme. Darin hält er fest, die Kontrollmechanismen hätten «wie vorgesehen gegriffen». Das würde zutreffen, wenn er die missverständliche Aussage gar nie für eine Veröffentlichung vorgesehen hätte. Die belastende Situation, «vor allem für Sascha Ruefer, der diese mediale Vorverurteilung über sich ergehen lassen musste», bedauert er. Angemessen wäre es gewesen, nicht nur zu bedauern, sondern um Entschuldigung zu bitten. Ein ehrliches Exgüsé würde allerdings auch Ruefer gut anstehen, seine Aussage bleibt problematisch.

 

Dieser Text ist zeitgleich bei «Persönlich», dem Onlineportal der Kommunikationsbranche, erschienen. 


Nachtrag vom 13. April 2023:

Die «Wochenzeitung» nimmt sich diesem Thema erneut an. Sie erklärt, wie ihr Redaktor beim Artikel vor Wochenfrist vorgegangen war, wie sie die Sache sieht und weshalb sie die journalistische Sorgfaltspflicht nicht verletzt.

Fotos: getty images & keystone

Jetzt hilft nur noch der Druck der Öffentlichkeit

Wir leben im Zeitalter von Fake News, Push-Nachrichten und Glarner-Funiciello-Ringkämpfen. Noch haben wir Alternativen zu schnell hingeworfenen News und belanglosen Storys. Geht es um Einordnung, Hintergrund und Analyse sind Sendungen wie «Echo der Zeit», «Rendez-vous» und «Heute Morgen» von Radio SRF zuverlässige Anker im Sturm. Sie überzeugen durch Qualität und erreichen die Massen – linear, zunehmend auch mit Podcasts.

Produziert werden diese Sendungen, aber auch die Nachrichten und SRF4 News seit jeher in Bern, die Fachredaktionen Wirtschaft, Inland und Ausland sind dort angesiedelt, ebenso die Korrespondentinnen und Korrespondenten. Das hat für Kontinuität und eine Bündelung an Know-how gesorgt. Und es brachte eine Kultur hervor, die unbezahlbar ist.

Doch die SRG- und SRF-Spitze will nun praktisch die gesamte Abteilung Information von Radio SRF von Bern nach Zürich verlegen. Betroffen wären rund 150 Vollzeitstellen (siehe Grafik unten). Zunächst wurde das Zentralisierungsprojekt als Sparmassnahme angepriesen. Als der Spareffekt schon bald auf drei bis maximal fünf Prozent des gesamten Sparprogramms zusammensackte, musste ein neues Zauberwort her: Digitalisierung. Der Bereich «Forschung und Entwicklung» könne nur systematisch vorangetrieben werden, wenn alle Beteiligten unter einem Dach seien, erklärte SRF-Direktor Ruedi Matter in einem Interview. Das Gegenteil trifft zu: Gerade die Digitalisierung eröffnet Möglichkeiten, um dezentral zu arbeiten. In allen Branchen. (Nebenbei: Die Renovation und der Ausbau des Radiostudios am jetzigen Standort kostete in den letzten Jahren insgesamt 30 Millionen Franken. Wird die Zentralisierung durchgeboxt, soll die Generaldirektion in die Radio-Liegenschaft an der Schwarztorstrasse umziehen. Sie müsste also erneut umgebaut werden, was erneut viel Geld kostete.)

Was bedeutete die Zentralisierung im Leutschenbach?

An einem Pult im Newsroom würde entschieden, wer welche Themen wie aufzubereiten hat. Die Folge wäre Gleichschaltung, der Wettbewerb der Redaktionen und die Differenzierung der Gefässe fallen weg. Die Beiträge werden in Einzelteile zerlegt und von anderen Journalisten über die verschiedenen Vektoren, also TV, Radio und Online, ausgespielt. Kurzfutter überall. Der Autor bzw. die Autorin des Beitrags hat keinen Einfluss mehr auf die weitere Verwertung ebendieses Beitrags. Das ist die Industrialisierung des Journalismus; sie macht ihn kaputt.

Die Bauarbeiten für einen Newsroom im Leutschenbach sind bereits im Gang. Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Ja, SRF soll einen Newsroom betreiben – für die schnelle Information! Egal auf welchem Vektor. Aber das reicht nicht. Die SRG-Sender können sich auf die Dauer nur halten, wenn sie auf Einordnung, Hintergrund und Analyse fokussieren. Dafür bezahlen die Leute gerne Empfangsgebühren. Das Radio ist prädestiniert dafür, TV hingegen bringt primär Themen, die sich bebildern lassen, Sport und Unterhaltung. Online wiederum ist stark auf Videosequenzen angewiesen, zudem sind diesem Vektor enge Grenzen gesetzt, was die Länge der Texte betrifft.

Das Bedürfnis nach fundierter Berichterstattung wird wachsen, zumal die privaten Medienhäuser auf Clickbaiting setzen und kein festes Korrespondentennetz mehr in den Regionen und im Ausland haben. Investigativer Journalismus wird noch wichtiger. Doch wer kann und will ihn ab dem Jahr 2025 noch bieten? Die SRG? Die WOZ? Die Republik, wenn sie überlebt? Hoffentlich die NZZ. Und sonst?

Stille.

Relevante Radiobeiträge kommen linear, als Podcast (also on demand) oder auf eine Art, die wir heute noch gar nicht kennen. Neue Formen werden entstehen, Radio ist dynamisch und kostengünstig.

Überzeugende Informations- und Hintergrundsendungen am Radio bedingen Distanz zum Newsroom und damit auch zu Zürich-Leutschenbach. Sonst droht die Verflachung des Angebots, starke Marken wie «Heute Morgen», «Rendez-vous» und «Echo der Zeit» verlören an Bedeutung, und damit würde eine unheilvolle Erosion einsetzen. Newsroom und Hintergrund – das sind zwei Kulturen. Unter einem Dach passen sie nicht zusammen, das Hintergründige würde verwässert.

Aus diesem Grund muss dieses Zentralisierungsprojekt jetzt endlich gestoppt werden. Schluss mit diesem Unfug à la McKinsey! Anders als bei «No Billag» können wir nicht mit einer Volksabstimmung kraftvoll «Njet» sagen. Hintergrundgespräche und politischer Druck haben in den letzten Monaten nicht zu einem Übungsabbruch geführt. Also hilft nur noch der Druck der Öffentlichkeit. Und damit liegt der Ball bei dir/Ihnen! Es geht darum, jetzt Farbe zu bekennen. Auf der Strasse.

Am Donnerstag, 30. August, 19 Uhr, wird auf dem Bundesplatz eine Kundgebung für den Radiostandort Bern stattfinden. Dabei geht es um viel mehr als den Standort von Radio SRF in Bern. Es geht um Föderalismus. Um Qualität. Um Demokratie. Und um den Medienplatz Schweiz.

Selbst wenn an jenem Abend andere Alternativen locken: Kommet zahlreich!

P.S.
Die Crew des Radiostudios Bern hat im Verlauf des Sommers ein Papier erarbeitet, das aufzeigt, wie ein Audio-Kompetenzzentrum in Bern aufgebaut werden könnte – Leseempfehlung.


Zur Grafik: Wie die Abteilung Information von Radio SRF in Bern heute aussieht, und wie sie sich nach der Zentralisierung präsentieren würde:

“Die Power des Internets ist zu verlockend”

Internet-Giganten wie Facebook oder Google filtern aus der Flut von Informationen gezielt heraus, was die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer interessieren könnte. Die Folge sind “Filterblasen”: Die eigene Meinung wird bestärkt, andere Meinungen werden ausgeblendet. Die sozialen Netzwerke kennen ihre User immer besser. Der Algorithmus der Plattformen berechnet anhand von Hunderten Parametern, wer wir sind und was wir zu sehen bekommen. Ein Klick hier, ein Like da – und schon sind wir in der Blase gefangen.

Zu diesem Thema stand ich Jürgen Pfister von der „Bündner Woche“ Red und Antwort.


Herr Balsiger, sortieren sich die Menschen immer mehr nach Selbstähnlichkeit?

MB: „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ – viele Leserinnen und Leser werden dieses Sprichwort kennen. Es entstand lange bevor das Internet seinen Siegeszug begonnen hat. (Lacht.) Aber es ist schon so: Die Gesellschaft fragmentiert immer mehr, gleichzeitig suchen die Menschen nach Orientierung – zum Beispiel im Netz, und dort vorzugsweise bei Leuten, die ähnlich denken.

Man bewegt sich unter seinesgleichen. Führt das nicht verstärkt dazu, dass man das Bewusstsein für andere Meinungen und für andere Positionen verliert oder, schlimmer noch, ablehnt?

In seiner Ausprägung hiesse das: Es gibt nur Richtig oder Falsch. Wer regelmässig bestätigt wird in seiner Meinung, dann aber plötzlich auf jemanden trifft, der eine konträre Überzeugung hat, ist zuerst irritiert. Dann kommt es zum Knall. Die Schweizer Parteien etwa gleichen inzwischen Sekten, wie sich mein Kollege Michael Hermann einmal ausdrückte. Alle haben die Wahrheit gepachtet, den anderen fehlt es an Intelligenz oder Weitsicht – oder an beidem. Die jahrhundertealte Tradition des Kompromisses, welche die Schweiz stark gemacht hat, wird so geschwächt.

Auch Falschmeldungen schleichen sich in Filterblasen ein. Wird die Unwahrheit zum Instrument der Politik?

Politik und Wahrheit waren noch nie eineiige Zwillinge. Das war auch in den angeblich guten alten Zeiten so.

Wie steht es um die Versuchung, Falschinformationen systematisch zu verbreiten?

Schon zu Zeiten des Römischen Reichs wurde die breite Öffentlichkeit manipuliert; Augustus beispielsweise, sein erster Kaiser, war ein Meister der Propaganda. Dasselbe gilt für die Bolschewiken während der Russischen Revolution 1917 und später für Nazi-Deutschland. Diese drei Beispiele zeigen: Falschinformation und Propaganda gibt es schon sehr lange. Das Internet, das ja die Gesellschaft weltweit hätte demokratisieren können, eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Manipulation. Wenn es um Macht und Geld geht, schrecken einige Akteure vor nichts zurück. Die Power des Internets ist zu verlockend, um es nicht für die eigenen Zwecke zu nutzen – und leider oft auch zu missbrauchen.

Eine Gefahr für die Demokratie?

Dort, wo die Demokratie nie stabil werden konnte, ja. Nehmen wir den Konflikt um die Ost-Ukraine als Beispiel. Dort tobt auch ein Krieg im Netz, befeuert von Trolls (ich nenne sie Internet-Hooligans), viele von ihnen sind bezahlt, und von Social Bots. Zweitere sind clevere Computerprogramme, die auf bestimmte Schlagworte selbständig Kurztexte verfassen und in Umlauf bringen – vorab via Twitter oder Facebook. Sie verbreiten „Fake News“, für ihre Enttarnung braucht es aufmerksame Leute, Zeit und Medienkompetenz. Viele User stellen sich aber gar nicht die Frage nach der Verlässlichkeit der Quelle, gerade wenn die „Fake News“ ihre eigenen Überzeugungen stützen. Man teilt, was einem gefällt.

Filterblasen stützen das eigene Weltbild, passen zu dem, was man längst weiss, und sie streicheln das eigene Ego. Wollen wir keine konträren Ansichten mehr sehen?

Sehen Sie, der Mensch ist ein bequemes Wesen. Es braucht weniger Energie, zwei Kilometer mit dem Auto ins Geschäft zu fahren, als dieselbe Distanz in 20 Minuten zu Fuss zu gehen. Also fährt man – täglich. Es ist genauso bequem, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben – im realen wie im virtuellen Leben. Es kommt ein weiterer Aspekt dazu: die Beschleunigung, der Megatrend unserer Zeit. Wir rasen durchs Leben, das Tempo überfordert uns, auch die News rollen wie grosse Wellen über uns hinweg. Komplexe Themen zu verstehen, ist aufwändig. Deswegen ziehen wir leichte Medienkost vor, und lieber solche, die bestätigt, was wir zu glauben wissen. Ein menschlicher Zug.

Je mehr personalisiert wird, umso mehr wird vom Rest der Welt ausgeblendet. Im schlimmsten Fall bekommt der Nutzer also gar nichts anderes mehr mit. Welches Risiko gibt es, wenn Meinungen ausgeblendet werden? Wie gefährlich ist diese Art der Meinungsbildung im Netz mit Blick auf Wahlen?

Die Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA haben gezeigt, dass zahllose Social Bots eingesetzt worden waren. Zeitweise waren bis zu 20 Prozent aller Tweets nicht mehr von Menschen getextet, sondern von solchen Bots, und das mit klaren Absichten. Die Meldung, der Papst habe sich für Donald Trump ausgesprochen, erreichte Hunderttausende von Menschen in den USA. Und viele von ihnen glaubten sie. Die systematische Verunglimpfung der Medien – Stichwort “Lügenpresse” – hat eine zerstörerische Kraft. Was die Schweiz betrifft, bin ich allerdings nicht pessimistisch: Wir sind wir aufgeklärte Bürger und haben mehr als 150 Jahre Erfahrung mit demokratischen Prozessen.


Fördert das Netz auch gesellschaftliche Extreme?

Diese Vermutung ist naheliegend. Nehmen wir die Wutbürger. Diese hat es zwar schon immer gegeben. Früher sassen sie im „Bären“ oder im „Sternen“ und liessen ihre Fäuste auf den Stammtisch krachen. Sie wetterten über „Tschinggen“, „Dreckstamilen“ oder „Sozialschmarozer“. Inzwischen sitzen die Wutbürger alleine zu Hause vor ihren Laptops und hämmern in die Tasten. Facebook und News-Portale wurden riesige Echokammern. Je lauter man hineinruft, desto grösser ist das Echo, und darum geht es. Je rabiater der Ton, desto höher ist die Aufmerksamkeitsprämie. Das steckt an und vergiftet unsere Gesellschaft. In der Verantwortung stehen auch die Medienhäuser: In den letzten zehn Jahren haben sie versucht, möglichst grosse Online-Communities aufzubauen, die Hürden für Kommentare sind tief. Auf diese Weise wird einer Armada von Wutbürgern eine Plattform geboten.

Im personalisierten Internet sieht der Nutzer nur noch Artikel, die ihn interessieren. Mit diesem Geschäftsmodell verdienen Internet-Konzerne ihr Geld, weil sie mit diesem Werkzeug auch die Werbung auf das jeweilige Profil zuschneiden. Wer beispielsweise Urlaub in Schweden anklickt, bekommt über Google oder Facebook plötzlich nur noch Angebote von Blockhütten an einem schwedischen See angezeigt. Eine tolle Entwicklung oder bedenklich?

Man kann den Datenkraken ja auch ein Schnippchen schlagen. Oder sich überlegt im Netz bewegen und weniger Spuren hinterlassen. Zum Beispiel andere Suchmaschinen als Google nutzen und Facebook nur für private Nachrichten.

Die Medien unterliegen einem rasanten Wandel, Stichwort digitale Disruption. Im Kern geht es um eine Frage, die viele Experten schon seit Jahrzehnten umtreibt: Wie entsteht Öffentlichkeit? Wie gesellschaftlicher Konsens? Haben Sie eine Antwort?

Ich orientiere mich an den beiden grossen W – Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Die Hektik des Alltags lässt uns vergessen, welch zentrale Bedeutung sie haben. Die Medien haben eine eminent wichtige Rolle in der Demokratie, aber sie sind sich dessen kaum mehr bewusst, weil die Zeit für Reflexion fehlt und ein entfesselter Überlebenskampf im Gange ist. Wir als Staatsbürger sollten den relevanten Themen mehr Raum geben, um nachzudenken, zu diskutieren (so wie die Griechen in der Agora), und das am besten in Gruppen, die soziodemografisch durchmischt sind. Ich tue das zum Beispiel in einem 20-köpfigen Chor, dessen Mitglieder aus den unterschiedlichsten Milieus kommen. Das ist sehr bereichernd.

Facebook als Nachrichtenquelle? Viele Nutzer sehen das inzwischen so. Facebook selbst hat sich vielfach dagegen verwahrt, als Medienunternehmen bezeichnet zu werden. Warum? Teilen Sie die Ansicht, dass dies geschieht, um sich vor allem gegen die Art politischer Intervention abzuschirmen, die in Bezug auf traditionelle Medienunternehmen gängig ist? Ich spreche beispielsweise von Presserecht und Gegendarstellungen bei falschen Behauptungen.

Facebook ist wie Google, Apple und Amazon eine Datenkrake. Dank unseren Daten sind diese Tech-Konzerne gross und mächtig geworden, ihre Gewinne sind gigantisch. Im erweiterten Sinne sind Facebook & Co. nicht nur Plattformen, die Beiträge von Medien transportieren, sondern auch Medienunternehmen. Als solche müssen sie sich verstehen. Das bedingt einen Kulturwandel – und es braucht Druck, viel Druck von aussen. Von den Nutzern, aber beispielsweise auch von der EU-Wettbewerbskommission, die ja Ende Juni Google wegen Verstösen gegen das Kartellrecht mit 2,4 Milliarden Euro büsste. Facebook müsste dieselben Pflichten haben wie „Le Monde“, Radio SRF oder die “Bündner Woche”.

Soziale Medien haben die traditionellen Stärken des Journalismus zum Teil entmachtet. Bei Facebook und Google stehen fragwürdige News und Verschwörungsblogs scheinbar gleichberechtigt neben Quellen, die sich an journalistische Standards halten. Eine Chance für die die althergebrachten Medien oder ihr Untergang?

Die Medienhäuser haben die fundamentale Krise der Medien selbst herbeigeführt. In den Neunzigerjahren führten sie aus freien Stücken Gratisnews ein – zuerst mit Pendlerzeitungen, dann im Internet. Das war intelligenzfrei, journalistisch aufbereitete Information darf nie gratis sein! In der Schweiz kümmern sich die grossen Medienhäuser nicht mehr um Qualität und Publizistik; es geht um Quoten, Klicks und Margen. Journalistische Produkte sind nicht mehr ein Kulturgut, sondern industriell aufbereiteter Konfekt – schnell zusammengesucht, schnell geschrieben, schnell vergessen. Einige wenige Medien kämpfen gegen diese Entwicklung zur Verflachung und kompletten Boulevardisierung an. Ein paar davon sind traditionelle und starke Marken, andere werden neu entstehen.

Was kann man selbst tun, um die Blase zum Platzen zu bringen, in der man vielleicht schon längst gefangen ist, ohne es zu merken?

Ich erzähle Ihnen, wie ich vorgegangen bin: Ich wählte sorgfältig ein paar Medien aus, deren Arbeit ich über eine längere Zeitspanne beobachtet und überprüft hatte, Print und Online. Dazu kommen glaubwürdige Meinungsmacher aus meiner Blase sowie Bloggerinnen, die im politischen Spektrum rechts und links zu verorten sind. Das ist mein Medienmenü. Früher abonnierte man NZZ und WOZ. Beiträge von Journalistinnen und Journalisten sollen zum Denken anregen. Ich stosse mich daran, dass Medien konsumiert werden. Dabei auch das Hirn einzuschalten würde helfen. Hunderttausende von Menschen in unserem Land beginnen ihren Medienkonsum um 19.30 Uhr mit der „Tagesschau“, gegen 23 Uhr wuchten sie sich aus dem Sessel und gehen schlafen. Abend für Abend. Wieviel haben sie mitbekommen und vor allem: Wieviel davon können sie später noch abrufen?

Das Original-Interview in der “Bündner Woche” vom 12. Juli 2017 zum Herunterladen:

“Bündner Woche”: Interview komplett (PDF)