Wieso es so schwer ist, leicht zu reisen

Achtzehn Stunden vor meiner Abfahrt ist auf der langen Packliste ein Wort immer noch mit gelber Farbe hinterlegt. Gelb bedeutet, dass dieses Ding noch fehlt.

Sicheren Schrittes betrete ich den Transa im Berner Stadtzentrum. Weil im Laden gerade Flaute herrscht, stürzen sich gleich zwei Verkäufer auf mich. «Was ich dringend brauche, ist ein sehr profaner Gegenstand», hebe ich an. «Etwa fünf Meter lang und am liebsten in einer auffälligen Farbe, sonst geht er wieder verloren.»

Zwei Augenpaare gucken neugierig.

«Ich brauche für mein Velotour eine neue Wäscheleine.»

Verkäufer Nummer 1 wieselt zielstrebig davon. Fünfzehn Sekunden später ist er zurück und meldet: «Nichts mehr hier!» Verkäufer Nummer 2 macht sich am Computer zu schaffen. Zehn Sekunden später, etwas zerknirscht: «Sie liefern erst wieder im August.»

«Sehr gut», antworte ich, «dann wasche ich erst wieder im August!» Sie müssen lachen.

Zu Hause angelangt, beginnt die 12. oder 13. Triage. Der Boden meiner halben Wohnung ist ausgelegt mit dem Material, das auf der Liste steht. In den letzten 11 Sessions hatte ich festgelegt, welche Sachen zwingend mit dabei sein müssen. Diese stapeln sich neben dem Sofa, diejenigen, die als «nice to have» gelten, müssen links an der Wand warten.

Das Problem dieser Sessions: Ich werde immer wieder wankelmütig. Ein Beispiel: Kabelbinder. Klar, die leisten gute Dienste, also sollen ein paar mit. Also lege ich 10 Stück bereit, die anderen 10 kommen auf die linke Seite. Eine Stunde später liegen wieder alle 20 Stück beim Sofa, es könnte ja sein, dass unterwegs andere Bikepacker keine mehr haben oder die Halterung einer Sacoche reisst. Ach.

Ein Abwägen in «Arena»-Länge gibt es bei den Schuhen: Vier Monate nur mit den Velo-Klickschuhen unterwegs zu sein, das wäre würdelos. Aber welche bieten den grössten Nutzen? Die Flipflops mit der Tricolore? Die ausgelatschten, aber immer noch brauchbaren Wanderschuhe? Die glänzenden Gummistiefelchen, die die Füsse auch im Landregen trockenhalten? Die Flusslatschen, die seit Jahren keine Pflegemittel mehr gekriegt haben, weil sie ja ohnehin immer wieder nass werden?

Ich zaudere und zaudere und zugleich hadere ich mit mir: Es ist unendlich schwer für mich, leicht zu reisen.

In all den Jahren bin ich ziemlich gut geworden im Erstellen von Packlisten. Wenn es aber ums Triagieren geht, bleibe ich eine Nuss. So kommt es, wie es kommen muss: Ich starte meine Biketrips stets mit zu viel Gepäck. Kaum keuche ich dann die erste nahrhafte Steigung hoch, fluche ich wie ein Stallknecht.
(Die Geschichte geht nach dem Bild noch weiter. Okay, das ist jetzt der worst cliff hanger ever.)

Donnerstagmorgen. Die grosse gelbe Tasche und die vier Sacochen sind gepackt (mit drei Schuhpaaren drin!). Ich sattle auf und will im Quartier eine Probefahrt machen. Schon nach wenigen Metern merke ich, dass etwas nicht stimmt. Ich sitze wie auf Watte, so unendlich weich wie vermutlich seit Baby-Jahren nicht mehr.

Wieder in der Wohnung stelle ich mich vor den Spiegel und gucke das Füdle genauer an. Es hat unten eine unförmige Ausbeulung. Ich habe es tatsächlich geschafft, eine gepolsterte Velohose über eine gepolsterte Velo-Unterhose anzuziehen.

PS:
Zurzeit bin ich in der Lombardei. Die ersten Tage sind problemlos verlaufen: Es rollt, die Sonne brennt, das rechte Knie hält, ich esse viel und gut. Und alle paar Stunden gumpe ich in einen Fluss oder See. Ohne gepolsterte Velo-Hose, aber das ist eine andere Geschichte.

9 thoughts on “Wieso es so schwer ist, leicht zu reisen

  • 22. Mai 2022 at 16:15
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    Du bist nicht allein: Das Packen ist was vom Schlimmsten – Packlisten hin oder her. N ganz bissel Luft muss man ja doch immer lassen in den Taschen für Vergessenes oder Mitbringsel.
    Eine Wäscheleine bekommst du sicher in Italien. Die haben so tolle Haushaltwarengeschäfte. Die muss ich auch aufsuchen, wenn ich gar nichts brauche.
    Wir starten in einer Woche mit Ziel Berlin.
    Gutes Fahrt einstweilen & liebe Grüsse, Katja

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  • 23. Mai 2022 at 9:48
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    Den verdeckten Ratschlag mit den Haushaltwarengeschäften werde ich nicht befolgen, Katja. Weil ich weiss, was dann passieren würde.

    Ihr macht auch eine Tour? Cool. Von Bern aus bis Berlin? Durch Bayern hoffe ich. Dort ist’s hügelig und die Leute san echt nett. So oder so: Gutes Gelingen und vor allem: Freude.

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    • 23. Mai 2022 at 19:22
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      Wäscheleinen sind überbewertet… schleppe nun schon die ganze Zeit eine mit und wir haben sie ein halbes Mal benutzt… Tolle Abenteuer noch! Gruss H&O

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      • 24. Mai 2022 at 8:40
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        @Oliver
        Die Bikepacker schwitzen ganz anders als die lieben Wandersleut’. Bei euch beiden ist Rom schon bald in Sicht.

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  • 23. Mai 2022 at 10:27
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    Marky Mark, ich freue mich auf viele Blogeinträge von dir, unterlegt mit einem Riesenhaufen Fotos!
    Was mich besonders interessieren würde: Wie bist du stromtechnisch aufgestellt? Solarpanel? Dynamo mit USB-Anschluss? Welt-Steckdosen-Adapter? Powerbank(s)?

    Möge dir die Reise von Hintern bis Vorne angenehm sein!

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    • 24. Mai 2022 at 8:41
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      @Marc
      Stromtechnisch – schönes Wort.

      Zu diesem Thema gibt’s wohl mal ein separates Posting, wenn ich alle Gadgets ausprobiert habe.

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  • 23. Mai 2022 at 12:55
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    Wünschen Dir alles alles Gute. Immer schön von Dir zu lesen.
    Josi u. Marlies

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  • 24. Mai 2022 at 19:10
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    Light Packing kannst du bei meinem Mann lernen. Der geht schon mal 10 Tage auf eine Fahrradtour nach Frankreich mit 1.7kg Gepäck am Rücken.

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  • Pingback: Eine kleine Ode an Italien | Mark Balsiger

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