Als ich gestern nach 22 Uhr das MacBook aufklappte und erste Tweets über den Krawall in Washington las, wähnte ich mich im falschen Film. Doch nachdem ich mir mehrmals kräftig in die Seite gezwickt hatte, musste ich erkennen: Die verstörenden Bilder sind echt. (Hier ein erhellendes 7-Minuten-Video von ITV.)
Tausende von Trump-Anhängern rissen die Abschrankungen vor dem Capitol nieder und stürmten es. Einzelne waren bewaffnet und verwüsteten die Büros. Die Mitglieder des Parlaments mussten vorübergehend in die Keller evakuiert werden. Inzwischen kursieren Videosequenzen, auf denen man sieht, dass die Sicherheitskräfte zum Teile keine Gegenwehr leisteten.
Was da passierte, ist ein Anschlag auf die Demokratie.
Die letzten vier Jahre Trump als «Freak-Show» und Auslöser zu bezeichnen, greift viel zu kurz. Er ist das Resultat einer Entwicklung, die zu Beginn der Achtzigerjahre begann: Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan (1980 – 1988) wurde das Militärbudget massiv erhöht, für den Bereich Soziales hingegen gab es deutlich weniger (bekannt unter dem Begriff «Reagonomics»). Die Spaltung der Gesellschaft setzte ein.
Vielen Amerikanerinnen und Amerikaner geht es heute ökonomisch schlechter als vor 20 Jahren. Millionen von ihnen haben wegen der Finanzkrise, der eine Immobilienkrise voranging, ihr Wohneigentum verloren. Der Schock sitzt tief, viele von ihnen sind verbittert. Das ist der Nährboden für Hass.
Zu Beginn der Neunzigerjahre bereiste ich acht Monate lang die USA. Ich war in den Metropolen, die zugleich faszinierend und kaputt waren. Und ich stoppte in den Käffern im Mittleren Westen, wo es zuweilen nur eine Imbissbude, gackernde Hühner und endlos lange Getreidefelder gab. Praktisch immer war ich bei Gastfamilien einquartiert, in Boston genauso wie in Wilcox/Arizona. Nichts hat mich mehr über die amerikanische Kultur gelehrt, als der direkte Austausch mit den Menschen dort.
Was bei diesen Gesprächen immer spürbar wurde: Die Amerikanerinnen und Amerikaner sind nicht nur stolz auf ihr Land. Vielmehr glaubten sie daran, dass es für sie weiter aufwärts geht, «I’m gonna make it», hörte ich oft. Das ist der Traum von der Tellerwäscherkarriere, der uns, die von Calvin und Zwingli geprägt wurden, irritiert. Die meisten Leute, die zwischen Kalifornien und der Ostküste leben, hätten diesen Optimismus inzwischen verloren, schrieb der niederländische Schriftsteller und USA-Kenner Geert Mak in einem seiner letzten Bücher.
Die Chaos-Stunden in Washington sind ein Symbol dafür, wie die älteste Demokratie am Wanken ist. Joe Biden sagte in einer ersten Stellungnahme: «We must restore democracy.» Das wird ein verdammt langer Weg.
Wir in der Schweiz tun gut daran, uns für das Gemeinsame und eine stabile Demokratie zu engagieren.
PS: Die Zivilgesellschaft ist der Kitt unserer Gesellschaft. Wer Anschluss sucht: die Bewegung Courage Civil ist offen für neue Mitglieder.
Ein sehr treffender, umsichtiger Kommentar, bravo!
Vielen Dank für dieses Lob, liebe Denise. Das stellt auf.
Meine Frau und ich haben direkt auf CNN geschaut und uns auch oft gefragt, ob das wirklich sei, bis zum guten Ende mit dem Gebet im Kongress um halb drei morgens. Die Tatsache, dass das Capitol an diesem wichtigen und von voraus geäusserten Drohungen überschatteten Tag nicht besser geschützt war, gibt zu denken. Der Zug der Demonstranten war einige Zeit in Richtung Capitol unterwegs, genügend Zeit, um ein Abwehrdispositiv zu errichten. Warum geschah das nicht? Verschwörungstheorien?
Und etwas Grundsätzliches zu dem, was Du, Mark, über Deine Erfahrungen schreibst. Auch wir haben die USA direkt erlebt, wir haben da einige Jahre gearbeitet. Die Gesellschaft fanden wir immer offen und pragmatisch, man wusste, wenn der Nachbar in der andern Partei war und half sich trotzdem aus oder lud sich gegenseitig ein zu «garden parties».
Heute ist das anders. Unsere Freunde in den USA klagen, dass sie die Hälfte ihrer Freunde verloren hätten, da sie mit ihnen nicht mehr redeten, weil sie in der andern Partei sind. Die Spaltung der Gesellschaft geht durch Firmen, Organisationen, Vereine, ja sogar Familien. Nicht selten reden Eltern mit den Kindern nicht mehr, weil diese politisch anderer Ansicht sind.
Fazit für uns? Der Weg zur Radikalisierung ist kürzer, als wir denken. Der Einsatz für Offenheit und Toleranz ist wichtiger, als wir es uns bewusst sind. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss immer wieder erkämpft werden. Und Freiheit ist immer gepaart mit Verantwortung. Alles bekannt, alles klar seit langem. Ist es das?
Die Rückmeldungen von meinen Bekannten in den USA sind deckungsgleich, Peter. Diese Radikalisierung, diese Unversöhnlichkeit ist schlimm.
Ich mag die Rolle des Kulturpessimisten nicht, aber bei Licht betrachtet hat in den letzten Jahrzehnten Vieles aus der amerikanischen Kultur bei uns Einzug gehalten. Wir müssen dagegenhalten, dass z.B. das Verhöhnen und Schwächen demokratischer Institutionen, das Donald Trump seit langem mit System betreibt, sich bei uns nicht festsetzt. Ansätze davon können wir beobachten. Umso entschiedener müssen wir dagegenhalten.
Wie verhalten sich die gewaltbereiten Leute, wenn Donald Trump nicht mehr Präsident ist? Das Interview mit Peter Neumann, einem Spezialisten für Terror:
https://www.gmx.ch/magazine/panorama/terrorexperte-peter-neumann-qanon-groesste-terroristische-bedrohung-35434484