Der Doppeladler – zwei Perspektiven


Im WM-Match Schweiz – Serbien läuft die 90. Spielminute. Xherdan Shaqiri schlenzt den Ball zum 2:1-Sieg ins Tor. Mit dem linken Fuss, an dessen Schuh übrigens die Schweizer Flagge prangt, rechts diejenige des Kosovos. „Shaq“ schlägt mit seiner rechten Hand auf das Schweizerkreuz, das sein Leibchen über der stolzen Brust ziert, dann formt er mit den Fingern den Doppeladler. Wie zuvor schon Granit Xhaka, nachdem dieser das 1:1 geschossen hatte. Der doppelköpfige Adler wird auch als Symbol für Grossalbanien, das Albanien, den Kosovo und Teile Mazedoniens umfassen soll, verstanden.

Die Doppeladler-Geste der beiden kosovostämmigen Fussballstars ist nicht nur “ein Gruss an die Familie“, sondern auch eine Reaktion auf die Provokationen der letzten Tage. Serbische Boulevardmedien hatten die Stimmung gegen Shaqiri aufgeheizt, während des WM-Spiels gegen die Schweiz waren serbische Fans zu sehen, die Pullover mit dem Konterfei des verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić trugen.

Die Jubelgesten von Shaqiri und Xhaka sind für viele Serbinnen und Serben nationalistisch, aber wir sollten etwas nicht vergessen: Auch Fussballer sind nur Menschen. Der Furor geht weiter, wenn die Fifa gegen sie Sanktionen beschliessen sollte.

Zwei Dinge geben mir zu denken:

– Eine Nationalrätin twitterte nach dem Sieg der Schweizer Nati: «Ich kann mich nicht wirklich freuen. Die beiden Goals sind nicht für die Schweiz gefallen, sondern für den Kosovo.» Es ist bedenklich, wie Natalie Rickli auch bei diesem Thema sofort ein eigenes politisches Süppchen zu kochen beginnt.

– Auf dem Onlineportal „Infosperber“ werden Shaqiri und Xhaka als „Schweizer“ Fussballer bezeichnet. Der Autor unterscheidet also zwischen Schweizern und „Schweizern“. Mit Verlaub, aber das ist Populismus, jeder dritte Mensch in unserem Land hat Migrationshintergrund. (Nachtrag vom 25. Juni 2018, 17 Uhr: Inzwischen wurden die Anführungszeichen gelöscht, aus “Schweizer” wurden Schweizer. Dazu wurde eine Entschuldigung, die einen Satz umfasst, gestellt.)

Ich arbeitete längere Zeit auf dem Balkan, Mitte der Neunzigerjahre in Bosnien, in den Nullerjahren im Kosovo. Dabei wurde mir bewusst, wie allgegenwärtig Nationalismus ist: oft subtil, manchmal aber auch bedrohlich, etwa bei Grossveranstaltungen.

Der Nationalismus setzte 1986 ein, nachdem Intellektuelle in Belgrad das „Memorandum zur Lage der serbischen Nation in Jugoslawien“ veröffentlicht hatten. Slobodan Milošević wurde ihr Werkzeug. Das Memorandum vergiftete die Atmosphäre im Vielvölkerstaat, Brandstifter von anderen Ethnien traten nun ebenfalls auf den Plan. Der Eiserne Vorhang fiel 1989/1990, damit verschwand für Jugoslawien auch die latente Bedrohung durch die Sowjetunion. Es geschah, was laut “Drehbuch” geschehen musste: Der Krieg in Bosnien begann, 1991 war’s. Der harte Kern der Hooligan-Szenen von Roter Stern Belgrad und Dynamo Zagreb mischte bei vielen Gräueltaten mit.

Es gibt serbischen, kosovarischen, kroatischen, bosniakischen, albanischen und mazedonischen Nationalismus. Er schaukelt sich gegenseitig hoch, immer wieder. Dabei ging es auch anders.

Ich werde jenen Frühlingsabend in einem Keller Sarajevos nie vergessen: Die multiethnisch zusammengesetzte Crew des Radios, das ich 1996/1997 aufbaute, hatte sich versammelt. Sie legte den Grundstein für die Zusammenarbeit in drei Sätzen: «Wir alle haben im Krieg mindestens ein Familienmitglied verloren. Deswegen können wir uns bis ans Lebensende hassen und ausgrenzen. Besser ist es, wenn wir uns jetzt zusammenraufen und vorwärtsschauen.»

Die Programme der Radiostation wurden gemeinsam von Serben, Kroaten und Bosniaken bestritten. Diese drei Volksgruppen bekriegten sich zuvor vier Jahre lang, was gegen 100’000 Tote und mehr als eine Million Vertriebene zur Folge hatte.

Das Radio wurde gehört. In ganz Bosnien. Über Jahre hinweg. Auch als die Karawane der NGO längst zum nächsten „hot spot“ weitergezogen war. Die Völker des Balkans sollten sich ein Beispiel an dieser Radiocrew nehmen.