Als es dem “Bund” an den Kragen ging – oder: Was ist uns Journalismus noch wert?

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Heute vor acht Jahren liess Pietro Supino, der Verwaltungsratspräsident der Tamedia, die Belegschaften von „Berner Zeitung“ und „Der Bund“ zusammentrommeln. Er informierte sie über Gewichtiges: Die beiden Tageszeitungen würden entweder fusioniert oder aber der „Bund“ mit vielen Inhalten des „Tages-Anzeigers“ beliefert. Es ging um den Abbau vieler Stellen auf beiden Redaktionen, aber auch in der Produktion und im Verlag, lies: eine Rosskur.

Diese Ankündigung schlug in Bern ein wie eine Bombe. Die Bundesstadt mit nur noch einer Kaufzeitung und womöglich ohne „Bund“ – unmöglich, das konnte und wollte sich niemand vorstellen! Zahllose Bernerinnen und Berner sind mit dem “Bund” aufgewachsen; er ist eine Institution. Der “Bund” gehört zu Bern wie die Aare, das Münster und der Zibelemärit.

Ich hatte schon am Vorabend Wind von Supinos angekündigtem Auftritt gekriegt und ging vom Worst Case aus: Fusion. Im Verlaufe des Montags führte ich Einzelgespräche mit drei Vertrauenspersonen, am Dienstag traf ich ein Mitglied der „Bund“-Redaktion, und am Mittwoch sagte ich schliesslich meine dreiwöchige Reise durch Mexiko, die in den nächsten Tagen begonnen hätte, ab.

Die Leserbriefspalten waren voll, der Unmut gross. „Bund“-Abonnentinnen und -Liebhaber fanden die Pläne des Zürcher Medienkonzerns unter jeder Kanone. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Ohne gut gemachte Kaufzeitungen – online inklusive – verliert die Demokratie einen wichtigen Pfeiler. Gute Zeitungen kosten Geld, viel Geld. Aber: Qualität sollte man fördern, nicht opfern, sonst kommt irgendeinmal der Bumerang. Tamedia machte 2008 einen Reingewinn von 106 Millionen Franken, im Frühling 2009 entliess sie einen Viertel der “Tagi”-Belegschaft. 2015 erzielte Tamedia einen Gewinn von 334 Mio., in diesem Jahr kam es bei “24heures” und “Tribune de Genève” zu 20 Entlassungen. Ich verschliesse meine Augen nicht vor den Realitäten, und klar, wenn Werbeeinnahmen einbrechen und Abozahlen zurückgehen, muss ein Verlag reagieren. Die Frage ist, wie.

Doch zurück zur “Bund”-Rettung. Mir stand ein Zeitfenster von drei Wochen zur Verfügung, währenddem ich mich voll auf dieses neue Projekt konzentrieren konnte. Im Hintergrund baute ich das Komitee „Rettet den Bund“ auf. Prominente wie Kuno Lauener, Thomas Hürlimann, Simonetta Sommaruga und Benedikt Weibel traten dem Co-Präsidium bei. Herr Häck legte den Grundstein für eine Website, ich definierte die Strategie für die nächsten Wochen, schliff an Botschaften und las alles über Medienökonomie, was ich auftreiben konnte. Am 11. Dezember 2008, einen Tag nach den Bundesratswahlen, gingen wir an die Öffentlichkeit. Ein paar Stunden später lag der Server vorübergehend flach, er war von den zahllosen Besuchen überfordert, Hunderte von Leuten traten schon am ersten Tag dem Rettungskomitee bei.

Der Widerstand war gebündelt, die Wellen der Entrüstung rollten offline und online, Facebook galt damals noch als hip. Ich erinnere mich lebhaft an jene Phase: Täglich erhielten wir Dutzende von E-Mails, Telefonate und Briefe, bei meiner Agentur, wo die Fäden zusammenliefen, gingen die Leute ein und aus. Nie zuvor hatte ein Projekt von uns so viele Reaktionen – mehrheitlich positive, zum Teil auch kritische – ausgelöst. Das motivierte ungemein. Während wir das Komitee weiter ausbauten und Öffentlichkeit generierten, begann sich im Hintergrund die „Arbeitsgruppe Gutenberg“ – bestehend aus Simonetta Sommaruga, Werner Luginbühl, Alec von Graffenried, Christoph Stalder und mir – mit der Tamedia-Spitze zu treffen.

Sechs Monate und 1200 Stunden Fronarbeit später entschied Tamedia, an der Marke „Bund“ festzuhalten und diese Traditionszeitung weiterhin herauszugeben. Ob die schiere Existenz des Rettungskomitees die Entscheidung des Medienkonzerns beeinflussen konnte, wissen wir nicht. Aber wir haben es versucht – mit Lust und einem langen Atem.


Weshalb erwähne ich das?
Ganz einfach: Um Sie/dich für dieses Thema zu sensibilisieren. (Hach, ein strapaziertes Wort!) Die Medien sind in einem disruptiven Prozess, ihre beinharten Manager haben den Glauben an die gedruckte Zeitung verloren, Publizistik interessiert sie nicht. Es ist möglich, dass Tamedia im Grossraum Bern in absehbarer Zeit einen der beiden Titel einstellen will.

Die Fragen, die wir uns an langen Dezemberabenden stellen sollten:

– Darf die Hauptstadt einer der ältesten und stabilsten Demokratien mit nur einer Tageszeitung – ob auch gedruckt oder nur noch online, ist nicht relevant – bedient werden?

– Stehen wir bereit mit einer Alternative, wenn Tamedia den Stecker zieht? („Journal B“ kam nie zum Fliegen, die „Tageswoche“ in Basel wird von einer Stiftung alimentiert, Constantin Seibt & Co. lancieren hoffentlich bald ihr eigenes „Project R“.)

– Was ist uns Journalismus in Zeiten von Google, wegbrechenden Werbeeinnahmen, Gratis- und Fake-News überhaupt noch wert?

Die Diskussion ist eröffnet. Wer sich hier nicht exponieren mag, erreicht mich auch per DN, Mail und Telefon.

P.S.
Zwei der Kampagnensujets, die wir im Winter 2008/2009 verwendeten, konnte ich aus dem Archiv „usegrüble“.
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