Vergesst Netflix, das Dorfkino Moglicë ist besser

Velorennfahrerinnen und Gravelbiker hätten ihre helle Freude an dieser Stecke: Die Strasse ist in einem ausgezeichneten Zustand, das Gelände kupiert, die Steigungen sind knackig. Einmal sind es 50, dann 100 oder noch mehr Höhemeter, die man mit Schwung bewältigen kann. Die Verkehrsingenieure haben oft 10 bis 30 Meter tiefe Schluchten durch die Felsen bauen lassen. «Es fägt», würden richtige Berner sagen.

Für mich ist eine Mühsal: «Jellow Jeff» allein ist 24 Kilogramm schwer, dazu kommt das Gepäck und mein Eigengewicht. Meistens kurble ich im ersten Gang bergauf, komme nur langsam voran und muss keuchen. Der innere Schweinehund hockt auf meiner linken Schulter und flüstert: «Hey, weshalb quälst du dich?» Ich konzentriere mich auf die Berge Albaniens und den riesigen Stausee, der nicht enden will.

Das Wasserkraftwerk, das die norwegische Firma Statkraft vor zwei Jahren ganz in der Nähe fertigstellte, produziert pro Jahr 450 Gigawattstunden. Albaniens Premierminister Edi Rama streicht die Versorgung mit erneuerbaren Energien hervor, doch die vielen Projekte für Wasserkraftwerke im Westbalkan stossen auch auf massive Kritik

Doch zurück zu meiner Etappe: Das Thermometer zeigt 36 Grad, auf der App steht irgendwo diskret in gelber Schrift: «Gefühlt 41 Grad». «Ihr Wetterfrösche habt ja keine Ahnung!», knurre ich halblaut als ich wieder in einer Schlucht bergauf strample. Die Sonne brennt von oben, von unten und den Felswänden her reflektiert die Wärme. So muss sich das Güggeli im Backofen fühlen.

Am Rand eines Städtchens entdecke ich eine Beiz unter alten Bäumen, direkt neben einem rauschenden Bach, der Wind kühlt. Das Ambiente gefällt mir, und ich lasse mich auf einen Stuhl fallen. Es ist nach 14 Uhr. Ich bin der einzige Gast und die Gerantin, schüchtern wie sie anfänglich ist, lässt ihren etwa zehnjährigen Sohn für sie übersetzen. Dann verschwindet sie in der Küche und ich höre, wie ein Messer routiniert und in hohem Tempo auf das Schneidebrett trifft. Fünfzehn Minuten später habe ich einen griechischen Salat (erstklassig) und eine grosse Portion Spaghetti mit Tomatensause vor mir. Dazu eine grosse Flasche Wasser und ein Süssgetränk.

Ich bin satt und zufrieden, der Kampf im Backofen ist eine Randnotiz. Im Barbershop neben der Beiz gönne ich mir eine Nassrasur und kriege am Schluss einen kräftigen Spritzer Eau de Cologne auf Backen und Hals. Ich muss grinsen: Oben riecht es gut, von den Schultern abwärts kleben die verschwitzten Kleider an meinem Leib. Ich radle los und geniesse es, ab und zu eine Nase voll des Kölnisch Wassers einzuatmen. Zehn Minuten später hat es sich verflüchtigt.

Die Schatten sind länger geworden, ich kurble in gemächlichem Tempo durch die Landschaften und geniesse das Panorama. Kein Motorengeräusch zerreisst die Stille. Die Bauern werken auf den Feldern, die Schäfer winken, wenn ich an ihnen vorbeifahre. Unterwegs pflücke ich wilde Mirabellen und stopfe sie in meinen Mund, was jedes Mal wie ein Zuckerschub wirkt.

Die grösste Hitze ist gebrochen, als ich in einen Canyon einbiege. Rechts von mir gurgelt ein Bach talwärts, die Felsen sind zuweilen rot, es sieht aus wie im Wilden Westen.

Es ist Abend, als ich in Moglicë vom Velo steige. Auf dem Dorfplatz spielen die Kinder, und natürlich sind sie sofort neugierig, wer dieser Fremde mit dem riesigen gelben Göppel ist. Den vorwitzigsten Buben, vielleicht sechs Jahre alt, schwinge ich auf den Sattel, und er findet das nach ein paar Sekunden des unsicheren Balancierens ziemlich cool. Das Eis ist gebrochen, jetzt wollen die anderen auch.

Auf einem Mäuerchen sitzend, haben fünf Männer das unbeschwerte Treiben beobachtet. Ich winke ihnen zu, es den Kindern gleichzutun und eine Runde zu fahren. Sie schütteln den Kopf, also probiere ich es mit einem Schlüsselwort: «Birra?» Fünf Köpfe nicken. Im Tante-Emma-Laden nebenan kaufe ich sechs Dosen Bier. Beim Öffnen erklingt sechsmal ein metallenes Knacken, und wir prosten einander zu. Herrlich erfrischend – in der Bergluft und nach einem solchen Tag schmeckt es noch besser.

Ich setze mich vor die Männer auf den Boden. Sie schauen mich an, ich schaue sie an, und es ist nicht komisch. Es sind einfache Menschen, die in diesem Bergdorf leben. Sie halten Kühe, Schafe und Ziegen, und beim Hinfahren habe ich Kartoffeläcker gesehen. Wie ich nach einer Nacht im Zelt am nächsten Morgen feststellen werde, sind die Erwachsenen schon in der sechsten Stunde auf den Beinen. Sie nutzen die angenehmen Temperaturen, um zu arbeiten.

Ich beherrsche sechs Wörter Albanisch, meine neuen Kumpel können, wie sich herausstellt, «good» und «Where do you come from?» Das ist eine schmale Basis, aber wir finden einen Ausweg. Auf dem staubigen Boden zeichne ich den Weg, den ich mit dem Fahrrad hinter mir habe, auf, und nenne die Länder. Das interessiert sie. Pause – dann hat einer der Männer eine Idee: Wir sollen das Alter der anderen erraten.

Alle machen mit und schreiben jeweils verdeckt eine Zahl in den Staub, welches Alter wir der Person, die gerade im Zentrum steht, zuschreiben. So simpel dieses Spiel auch ist, wir machen eine theatralische Nummer daraus und amüsieren uns köstlich.

Urplötzlich wird es laut: Ein Esel trabt über den Dorfplatz. Er schleift ein sicher 20 Meter langes Seil hinter sich her. Ein Mann in Gummistiefeln rennt ihm schreiend nach, aber dieser hat offenbar keine Lust, eingefangen zu werden, vielmehr spielt er «Fangis» mit seinem Besitzer. Die Komik ist nicht zu übertreffen: Kinder, Männer und der Radfahrer aus der Schweiz müssen lachen. Leute, vergesst Netflix, das Dorfkino Moglicë ist besser!

 

PS:
Mein Wortschatz hat sich an jenem Abend um zwei Wörter vergrössert: Ich weiss jetzt, dass Gëzuar Prost heisst, und Gomar ist der Esel. Bei der nächstbesten Gelegenheit passiert es mir womöglich, dass ich die beiden Begriffe verkehrt herum anwende. Das gibt dann Stoff für ein neues Posting.

6 thoughts on “Vergesst Netflix, das Dorfkino Moglicë ist besser

  • 6. Juli 2022 at 8:31
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    Eine sehr schöne, Völker verbindende Geschichte. Hab Dank dafür. Hier noch drei weiter Wörter auf Albanisch: vazhdoni të argëtoheni (= weiterhin viel Spass).
    Peter

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  • 6. Juli 2022 at 15:17
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    Danke, Peter. Ich werde die neuen Wörter unterwegs üben, sie klingen rund. Sie gelten natürlich auch für mich, und ja, Spass habe ich. Meistens.

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  • 6. Juli 2022 at 16:09
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    Hi Mark,
    Ich habe mit Ruth die Ausbildung gemacht und so von deiner Reise gehört. Ich freue mich sehr zu lesen, wie positiv du Albanien erlebst. Ich liebe es hier, in Durres, zu wohnen.

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    • 6. Juli 2022 at 21:06
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      Hoi Heidi

      Ich nehme an, du meinst meine Schwester Ruth, nicht?

      In Albanien war ich nur ein paar Tage unterwegs. Doch die Eindrücke und Erlebnisse waren fast rundum positiv. Das bezieht sich vorab auf die Menschen, die sehr hilfsbereit und freundlich waren. Ich werde zurückkommen – wieder mit dem Velo, aber weniger Gepäck. So lassen sich die tollen Pässe viel einfacher knacken. Liebe Grüsse.

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  • 10. Juli 2022 at 20:12
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    Hallo Mark!
    Ich staune, dass du nach einem intensiven Radlertag noch Energie hast, mit wildfremden Kindern zu Velöle!!! So viel Energie hätte ich auch gern.
    Bist du eigentlich ganz allein unterwegs? Oder wirst du hin und wieder von jemandem begleitet?
    Liebe Grüsse aus unserer aktuell sonnigen Küche in Pratteln

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    • 10. Juli 2022 at 22:00
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      Hoi Irene

      Nun, Kinder geben mir eben auch Energie. (Aber nur, wenn man sie nicht dauernd auf der Backe hat!) Ich mag sie, diese unverstellten Kinder und Erwachsenen sehr.

      Zu deiner Frage: Bikepacker sind unterwegs, viele alleine, andere zu zweit, gelegentlich auch Familien. Wenn sich unterwegs welche treffen, wird gestoppt – gilt als «Regel». Und dann tauschen wir uns aus. Manchmal fahren wir auch gemeinsam eine Stecke oder mehrere Tage zusammen.

      Ich fahre am liebsten alleine, mag aber abends gute Gesellschaft. Das müssen nicht Velofahrerinnen oder -fahrer sein. Gestern beispielsweise ergab es sich, dass ich mit dem Vermieter des Gasthofs ins Gespräch kam. Etwas später sass eine Ehepaar, in Bulgarien aufgewachsen, seit 15 Jahren aber in Dänemark zu Hause, hinzu. Ein angeregte Runde.

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