Den schönsten Strand liess ich links liegen

Im Frühling 1996 flog ich über die dalmatinische Küste und war hingerissen von der Landschaft und dem intensiven Blau des Wassers. Vorgelagert sind zahllose Inseln, die sich aneinanderreihen wie eine Perlenkette. Ich beschloss, einmal zurückzukehren. Dieser Tage habe ich das Inselhüpfen an der kroatischen Adria versucht. Ganz ohne Frust ging das nicht, «an Yellow Jeff» lag es nicht.  

Nach der Feinplanung waren Brač und Hrvar aussortiert, weil sie zu nahe bei Split und zu touristisch sind. Stattdessen nahm ich die Fähre nach Vis, einer Insel, die früher ein militärisches Schutzgebiet war und erst 1995 für Leute aus dem Ausland zugänglich gemacht worden war.

Die Atmosphäre auf Vis ist entspannt, die Menschen sind freundlich, die Strassen verkehrsarm. «Gut gewählt, Mark!», lobe ich mich selbst.

Mehrere Einheimische empfehlen mir, Stiniva zu besuchen. Das sei laut einer Erhebung der schönste Strand Europas, ergänzen sie nicht ganz ohne Stolz.

Am Sklavengrätli werfe ich Google an und tippe den Namen ein. Tatsächlich wurde Stiniva im Jahr 2016 zu «Europe’s most beautiful beach» gekürt. Mehr als 10’000 Leute hatten sich an der Befragung von Tripadviser beteiligt, über die Methodik bringe ich nichts in Erfahrung.

Von Rankings und Superlativen halte ich wenig, aber meine Neugierde ist geweckt. Am zweiten Tag sattle ich «Jellow Jeff» und radle los. Irgendeinmal kommt ein diskretes Schild, ich biege ab und fahre auf einem schmalen, zuweilen staubigen Strässchen weiter. Fünfzehn Minuten später bin auf einem Parkplatz angelangt. Nichts stört die Stille, nur drei Fahrzeuge dösen in der Hitze vor sich hin, aus der Ferne funkelt das Blau des Meers. «Das könnte etwas werden mit diesem Strand», denke ich vorfreudig und lehne mein Fahrrad an einen Baum.

Zu Fuss geht es weiter, der Marsch dauere etwa eine halbe Stunde, steht im Reiseführer. Ich muss mich konzentrieren, weil der Abstieg steil und anspruchsvoll ist. Nach ein paar Minuten erklingt durch das Dickicht der Sträucher plötzlich – Geschnatter. Es sind Wortfetzen auf Englisch. Kurze Zeit später entdecke ich auf dem schmalen Pfad den ersten Rücken eines Menschen, dann einen zweiten, einen dritten. Schliesslich mache ich 15 Teenager aus, die vor mir bergab stolpern. Sie tragen Flip-Flops und halten ihr Smartphone in der Hand. «Herr, lass Hirn regnen!», murmle ich in einem Anflug von Boshaftigkeit. Die jungen Amis schnattern und schnattern. «You’re filling the air!», war eine meiner Provokationen, als ich in den USA gelebt hatte.

Den hintersten Teil der Gruppe habe ich bald einmal überholt. Ich grüsse freundlich – kein Echo. Die anderen Teenager machen keine Anstalten, mich vorbeizulassen. Meine Laune verschlechtert sich. «Macht doch Urlaub am Santa Monica Beach!», denke ich und tadle mich für meinen Egoismus.

Auf einer Lichtung wird der Blick hinunter plötzlich frei, und ich bleibe wie angewurzelt stehen. In der Bucht liegen sicher zehn Boote und Jachten, zwei weitere brausen gerade in hohem Tempo herein.

Der Landweg ist etwas für Dummköpfe

Da fällt es mir wie Schuppen vor den Augen: «Natürlich, die Touristinnen und Touristen lassen sich so bequem zum Stiniva-Strand bringen, der beschwerliche Landweg ist was für Dummköpfe.»

Wenn sich auf jeder Jacht zehn oder fünfzehn Menschen befinden, sind das…. hach, rechnen bei 35 Grad!… ziemlich viele, die sich am Strand tummeln. Sie schnattern sicher alle, und es gibt es eine Happy-Hour-Bar, das übliche Angebot mit Schnocheln, Muscheln und Souvenirs… ach! Fast sämtliche Klichees, die ein Touristenstrand bietet, jagen durch meinen Kopf und ich tadle mich zum zweiten Mal. Dann mache ich rechtsumkehrt, beginne wieder bergwärts zu stapfen und lasse «Europe’s most beautiful beach» links liegen.

Einen Tag später bin ich auf einer anderen Insel unterwegs. Während der Mittagszeit, die Sonne brennt erbarmungslos auf meinen Nacken, entdecke ich einen Strand, der mich die Mühsal sofort vergessen lässt. Er ist verwunschen, naturbelassen und menschenleer. Stattdessen liegt eine herrliche Ruhe über der Bucht. Ich tauche ein und mache ein paar kräftige Züge im türkisblauen Wasser. «That’s my cup of tea!»

Wie dieser Strand heisst, weiss ich nicht, womöglich hat er gar keinen Namen. Ich hoffe einfach, dass er nie einen «Titel» holt.

PS:
– Von meinem Traumstrand machte ich keine Fotos. Die hier verwendete Symbolbild stammt von einem Strand auf Vis – auch schön, auch menschenleer. Ich übernachtete dort unter freiem Himmel.
– Von Stiniva Beach gibt’s selbstverständlich eine eigene Website, sogar auf Deutsch. Und viele schöne Fotos.