Als Teenager hatte ich Pickel auf der Stirne, Flausen im Kopf, Bäckerhosen im 7/8-Schnitt und eine grosse Liebe: Musik. Das Geld, das ich als Zeitungsverträger verdiente, reinvestierte ich zu praktisch 100 Prozent in Langspielplatten. (Für Leute der Generation Z: Das sind Kuhfladen-grosse schwarze flache Scheiben, die beim Abspielen x-fach besser klingen als dieselben Songs über Spotify & Co.) Samstag für Samstag pilgerte ich nach Brugg zu «Fairplay Records», und Co-Inhaber René Wermelinger (selig) wusste genau, welche «heissen Scheiben» er mir vorspielen musste.
Er verdiente gutes Geld mit mir, und ich habe dank ihm eine grandiose Sammlung. Nie würde ich mich auch nur von einer dieser Platten trennen!
Als mir René an einem Frühlingstag im Jahr 1984 «Private Dancer» von Tina Turner auflegt, kippe ich nicht vom Hocker. Erst bei «I might have been queen» bin ich hin und weg. Begeistert sage ich: «Einpacken!», 19 Franken wechseln den Besitzer und ich radle heimwärts. In meinem Zimmer tanzt die Nadel über die LP, und diese wird beim Hören jedes Mal besser.
Erhebungen kommen immer wieder zum selben Schluss: Die Musik, die uns im Alter zwischen 15 und 18 Jahren gefiel, lässt uns ein ganzes Leben lang nicht mehr los. Sie prägt.
Ein knappes Jahr später ist Tina Turner auf Europatournee. Ich fahre mit viel Bargeld in die ferne Stadt, um im Vorverkauf Tickets zu ergattern. Das Internet gab es damals noch nicht, und ich erinnere mich, wie ich einen kleinen Stapel glänzendes Papier wie eine Trophäe nach Hause brachte: 15 Eintrittskarten. (Eine kostete damals 24 Franken.)
Am 8. März 1985 fährt unsere bunt zusammengewürfelte Truppe mit dem Zug nach Oerlikon, und wir drücken uns mit 10’000 anderen Fans vorfreudig ins Hallenstadion. Um acht Uhr geht das Licht aus, Bryan Adams stürmt auf die Bühne und macht vom ersten Moment an klar, dass er richtig abdrücken will. Das Publikum ist flugs auf den Beinen und lässt sich anstecken, die Party geht los. Wer lange Haare hat, lässt sie durch die Luft wirbeln.
So viel Charisma, so viel Energie
Kaum ist Tina Turner auf der Bühne, geraten die Fans im ausverkauften Stadion erst recht aus dem Häuschen. Die Band ist stark, das Set ausgezeichnet, die Energie, die die Sängerin über die ganze Show mobilisieren kann, ist enorm. Tina zieht uns in ihren Bann mit ihrem Charisma und ihrer Stimme, die mal roh, mal soulig klingt. Am besten finde ich ihre Covers von Al Green, CCR, Iggy Pop oder den Beatles. Sie gibt ihnen ihre eigene Prägung. Was den Unterschied zu fast allen anderen Künstlerinnen ausmacht, ist ihre Präsenz.
Ich hüpfe während des ganzen Konzerts im Takt mit, reisse immer wieder die Arme in die Höhe und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben komplett berauscht, und das ohne einen Schluck Alkohol getrunken zu haben. «Rock is a drug» wussten Spliff schon 1980 in ihrer grandiosen «The Spliff Radio Show».
Aufgekratzt taumeln wir durch die Strassen zum Bahnhof und singen die Songs nochmals mit heiserer Stimme. Das klang zweifellos ziemlich falsch, aber: in dieser Nacht gehörte uns die ganze Welt.
PS:
Gestern wurde Tina Turner im Alter von 83 Jahren abberufen. Ich zündete eine Kerze an und hörte den ganzen Abend die Songs ihrer langen Karriere. Das beste Album ist für mich «Live in Paris» aus dem Jahr 1971, als ihr damaliger Mann, Ike Turner, noch mitgewirkt hatte. Er war zwar ein übler Kerl, wie wir seit der Biografie «I, Tina» (1986) wissen, aber die richtig guten Songs hat er geschrieben.
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