Bundesratswahlen elektrisieren viele Journalistinnen und Journalisten. (Zugegeben, Politbeobachter auch.) Das zeigt die jüngste Statistik. In der Schweizer Mediendatenbank wurde der Name Ignazio Cassis vom 15. Juni bis 15. September in 2186 verschiedenen Artikeln genannt. Pro Tag sind das 24 Artikel. Isabelle Moret erreichte in derselben Zeitspanne 1363 Nennungen, Pierre Maudet 1289. (Diese Zahlen umfassen übrigens bloss die deutschsprachigen Medien.) Zum Vergleich: Das Stichwort „Altersvorsorge“ fiel in den letzten drei Monaten in 2713 Artikeln, „Altersreform“ in 826.
Seit Mitte der Neunzigerjahre sind Bundesratswahlen zu einem Medienspektakel geworden, das nicht zu unserem republikanisch geprägten Land passt. Die Personalisierung und Medialisierung der Politik setzte sich auch in der Schweiz fest. Was an Inszenierung noch fehlt: Dass dem frisch Gewählten – oder der frisch Gewählten – eine Krone aufs Haupt gesetzt wird.
Die Veränderungen hat damals das Medium Fernsehen ausgelöst, das Internet gab es zwar schon, war aber bedeutungslos, Mark Zuckerberg drückte dann noch nicht einmal „Bibeli“ in seinem Gesicht aus.
Seit 1994 sind in der Schweiz private TV-Anbieter auf dem Markt, die damals einen anderen Zugang zur Politik suchten als das behäbige Schweizer Fernsehen SRF. Sie haben die Art der Politikvermittlung verändert und beschleunigt, SRF zog mit, etwa mit dem Nachrichtenmagazin „10vor10“. Bei den Wahlen 1999 kamen die ambitionierten nationalen Sender „TV3“ und „Tele24“ dazu – vorübergehend.
Bundesratswahlen eignen sich vorzüglich für das Medium Fernsehen: Es ist unmittelbar und transportiert Emotionen, es suggeriert den Zuschauerinnen und Zuschauern, wie bei einem Fussballmatch vor Ort zu sein.
Die Live-Berichterstattungen mit all ihren Möglichkeiten (Instant-Analysen, Schaltungen an verschiedene Schauplätze, Interviews, Einspielen von älterem Bildmaterial) zeigen allerdings auch schonungslos, wenn Fehlleistungen passieren – technische und journalistische. Das ist der Preis. Die Frage, die bei den Bundesratswahlen vor zwei Jahren „Glanz & Gloria“-Niveau erreichte, lautete: “Wie fühlen sie sich so bei diesen Bundesratswahlen?”
Das Medienspektakel bindet viele Ressourcen. Bei den letzten Wahlen im Dezember 2015 waren gemäss der Nachrichtenagentur sda 380 Medienschaffende im Einsatz. Morgen dürften es kaum weniger sein. Auf ein Mitglied des Eidgenössischen Parlaments kommen also rund eineinhalb Journalisten.
P.S.
Mein Medienmenu am nächsten Mittwoch ist erprobt: Ich installiere mich in der Stube am Holztisch, vor mir eine Kanne Tee. Es läuft Radio SRF1 – seine Equipe schaukelt Wahlsendungen abwechslungsreich und analytisch, das Geschwätzige, das mich beim Fernsehen oft nervt, fällt weg. Dazu gucke ich Schweizer Fernsehen – ohne Ton. Und vermutlich entfährt mir der eine oder andere Tweet – der Hashtag zum Thema lautet #brw17.
Am Abend schliesslich werde ich zu Gast sein in Markus Gillis „TalkTäglich“, das von „TeleZüri“, „TeleM1“ und „TeleBärn“ ausgestrahlt wird. Dort liefern wir hoffentlich nur wenig Geschwätz, dafür ein paar eigenständige Ansätze.
P.P.S.
Den Toto-Zettel für die Bundesratswahlen von Morgen können Sie hier als PDF herunterladen. So behalten Sie während den einzelnen Wahlgängen die Übersicht.
Dieses Posting hat Widerspruch geweckt. Markus Häfliger, Bundeshauskorrespondent von “Tages-Anzeiger” und “Bund” findet, man dürfe angesichts des Medienhypes nicht die Nase rümpfen. Weiter schreibt Häfliger:
“Worüber berichteten die Medien genau? Natürlich sezierten sie die drei Kandidaten und hinterfragten ihre Eignung fürs höchste Amt im Staat. Sie berichteten aber auch über die Romandie und die italienische Schweiz, ihre Eigenheiten und ihre Ansprüche, im Bundesrat vertreten zu sein. Sie zeigten auf, dass das Tessin nicht nur als Tourismusdestination existiert, sondern als eigenständiges Politbiotop.”
Sein gesamter Artikel gibt es hier: http://bit.ly/2fhGJvT
Ich halte dagegen und sage: Lieber Markus, den Horse Race Journalism hast du komplett ausgeblendet. Gefühlt drehten sich 70 bis 80 Prozent aller Artikel zu den Bundesratswahlen um Chancen, Winkelzüge und dergleichen mehr. Das interessiert in dieser erschlagenden Quantität die meisten Leserinnen und Leser nicht.
Eine Definition zu “Horse Race Journalism” liefert Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Horse-Race-Berichterstattung
Das Langzeitgedächtnis meldete sich eben: Am 17. Juni schrieb Philipp Loser, ein Arbeitskollege von Markus Häfliger bei Tagi und “Bund”, auch er ein wacher und begabter Journalist, dass das Rennen um die Nachfolge von Didier Burkhalter schon gelaufen sei:
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Mein-Gott-ist-das-langweilig/story/11256999
Seither wurden alleine im gedruckten “Tages-Anzeiger” 139 Artikel zu Favorit Ignazio Cassis veröffentlicht.