Unsere Freiheiten kommen zurück

Gestern Abend, kurz nach 19 Uhr. Auf dem Bahnhofplatz in Bern demonstrieren Zertifikats-Gegner. Auf einem selbstgemalten Schild steht: «Für die Freiheit, gegen Diktatur!» Treicheln erklingen, für zwei Momente wähnt man sich an einem Alpabzug. «Ich sehe keine Kühe», merkt Bürokollege Suppino trocken an.

Ich schiebe mein Velo weiter zur Aarberggasse, der «Ausgehmeile» in der Bundesstadt. Hunderte von Leuten sitzen draussen vor den Beizen, die Stimmung ist gut und relaxed wie an einem Ferientag am See. Sie freuen sich über den herrlichen Spätsommerabend, ein Znacht mit Freunden, das Fussballspiel gegen Nordirland, das später auf vielen Bildschirmen gezeigt wird, und ihre wiedergewonnen Freiheiten. Auf dem Waisenhausplatz dieselbe Ambiente. Keine Frage, die Lebensfreude und die Normalität sind zurück.

Am nächsten Montag werde ich in die «Mühle Hunziken» gehen, zum ersten Mal seit bald zwei Jahren. Wolfgang Niedecken tritt auf, und ich freue mich wie Kind auf seine Geschichten und Songs. Das Check-in mit der App braucht vielleicht etwa fünf Sekunden pro Nase. Allein schon der Gedanke ist entspannend, dass die Gäste vor, neben und hinter mir auch «3-G»-zertifiziert sind. (3-G steht für geimpft, genesen oder getestet.) Das gilt auch in der Beiz oder im Kleintheater. Bleibt der Datenschutz: Tatsache ist, dass ich bei den Tech-Giganten mehr preis gebe als mit dem Covid-Zertifikat.

Was wir nicht vergessen sollten: In den letzten hundert Jahren konnten mehrere Infektionskrankheiten unter Kontrolle gebracht oder sogar ausgerottet werden, denken wie nur an Kinderlähmung, Masern oder Pocken. Impfungen sind eine grosse Errungenschaft der Medizingeschichte. Aus diesem Grund ist die Frage Covid-Zertifikat oder ein weiterer Lockdown rein rhetorisch.

Die Aggressivität, mit der die Corona-Thematik auf beiden Seiten diskutiert wird, ist erschreckend. Wenn die Freiheit mit der vorübergehenden Einführung eines Zertifikats als bedroht oder gar abgeschafft bezeichnet, überspannt den Bogen. Wer das Wort Faschismus braucht, verharmlost masslos, was zwischen 1933 und 1945 in Nazi-Deutschland geschah. Ich plädiere erneut für mehr Gelassenheit. Wer die Massnahmen und das Covid-Gesetz ablehnt, kann am 28. November Nein stimmen. So viel zum Thema Diktatur.


Foto Aarbergergasse: «Der Bund»/Manu Friedrich 

Über unseren Medienkonsum während der Corona-Krise


Bizarre Zeiten!

Von Viren, Immunsystemen und Epidemien verstehe ich nichts. Dafür von Medien. Sie haben während der Corona-Krise einen beträchtlichen Einfluss auf unsere Gesundheit. Darum geht es in diesem Posting.

Das Interesse der Menschen rund um das Thema Corona ist enorm. So schauten am Sonntagabend beispielsweise fast 1,5 Millionen Leute die Hauptausgabe der SRF-«Tagesschau». Das sind mehr als doppelt so viele wie normal. Die NZZ berechnete, dass in den letzten vier Wochen in den Schweizer Medien 18’736 Artikel mit den Schlagworten «Coronavirus» oder Covid-19» erschienen sind. Pro Tag entspricht das 625 Artikeln. (Die Radio- und Fernsehbeiträge wurden dabei nicht eingerechnet.)

Täglich 625 Artikel in Zeitungen und Online-Portalen – das ist erschlagend!

Ich verarbeite etwa 10 oder 15 Prozent dieser Corona-Nachrichtenflut. «Spinnsiech!», denkt ihr jetzt vermutlich. Stimmt, aber ich bin mehr als mein halbes Leben lang von Berufes wegen «heavy user» – offline und online – und deshalb allerhand gewohnt.

Was ich aber schon Mitte Februar machte: Ich stellte alle Push-Nachrichten ab, und ich kann euch nur empfehlen, dasselbe zu tun. Sie suggerieren, uns zu informieren, dabei verzerren sie das Thema und lösen Stress aus.

Was wir vielmehr brauchen, sind Fakten und eine regelmässige Einordnung. Gut eignet sich dafür die Website des Bundesamts für Gesundheit (BAG), die ich hier verlinke, und dessen Facebook-Page. Des Teufels sind die Verschwörungstheoretiker und Youtube-«Doktoren», die wieder aus ihren Löchern hervorgekrochen sind.

Die Medien haben bislang einen guten Job gemacht. Klar, es ist ein Overkill. Klar, es gab auch ein paar Ausreisser und zuweilen beschlich mich der Verdacht, dass das Clickbaiting immer noch eine Rolle spielt. Den Vorwurf, viele relevante Artikel seien hinter einer Bezahlschranke, teile ich nicht. Es gibt genügend Medien, deren Angebote frei zugänglich sind. So berichtet SRF beispielsweise zuverlässig, umfassend und vor allem: einordnend. Wäre vor zwei Jahren die No-Billag-Initiative angenommen worden, bestünde der Service Public jetzt nicht mehr.

Freunde von mir sind zurzeit newssüchtig, sie kleben stundenlang an ihren Geräten. Auf die Dauer ist das gefährlich, weil man ausbrennt. Einmal pro Tag News zu konsumieren würde ausreichen, finde ich. Entscheidend ist, dass das Thema eingeordnet wird. Wer nicht lesen mag: Radio SRF4 News – auf DAB und im Netz verbreitet – liefert 24/7 einen ausgezeichneten Service, Einordnung inklusive.

So, ich gurgle jetzt mit lauwarmem Wasser, was die Schleimhäute geschmeidig hält, und bummle dann zum «Rosengarten». Dort inhaliere ich 15 Minuten lang den prallen Frühling, komme wieder nach Hause, wasche die Hände ausgiebig mit Seife, tausche den Hoodie mit einem neuen Hemd ein, setze Kaffee auf und mich an den grossen Tisch in der Stube. Bevor ich den Deckel des Macbooks aufklappe und zu arbeiten beginne, sage ich laut in den Raum hinein: «Kick the bucket, Corona!» Das klang schon gestern saugut.

Schlaft viel. Bleibt optimistisch. Lacht regelmässig. Fletscht mit den Zähnen. Konsultiert die Website des BAG. Gurgelt mehrmals täglich, wie diese ETH-Professorin rät.