Midsommar in Montenegro

Die Kleinstädte an der Adriaküste Montenegros sind historisch und charmant. Bar ist die Ausnahme, hat dafür geostrategisch eine zentrale Bedeutung. Während des Kalten Kriegs nutzte die Sowjetunion den Hafen von Bar mit ihren Schiffen und hatte so Zugang zum Mittelmeer.

Während der Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 bis 1995 zerfiel, bildeten sich an seiner Stelle eigenständige Länder. Montenegro (übersetzt: Schwarzer Berg) musste sich zuerst schrittweise von der Schwesterrepublik Serbien und dem Regime von Slobodan Milošević loslösen, bevor es 2006 die Unabhängigkeit erlangte; das Volk sprach sich mit 55 Prozent Ja-Stimmen dafür aus.

2017 folgte ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Landes, das dreimal kleiner ist als die Schweiz und 14 Mal weniger Einwohner zählt: Montenegro wurde als 29. Mitglied von der Nato aufgenommen. Wer die Europakarte betrachtet, merkt schnell, weshalb ihr die Integration Montenegros so wichtig war. Moskau reagierte verärgert.

Bar hat aus einem zweiten Grund eine strategische Bedeutung: Von hier aus führt eine 476 Kilometer lange Eisenbahnlinie bis nach Belgrad. Die Strecke umfasst rund 250 Tunnel und ebenso viele Brücken. Bis zur Wasserscheide in den Bergen schraubt sie sich auf 1000 Meter über Meer und gilt als eine der attraktivsten Bahnlinien Europas. Sie war das teuerste Infrastrukturprojekt Jugoslawiens und ein Prestigeobjekt des Langzeitdiktators Josip Tito. Nach 25 Jahren Arbeit wurde es 1976 mit einem grossen Volksfest eröffnet.

Als Eisenbahnromantiker wollte ich diese Strecke natürlich kennenlernen. Das machte ich vor Wochenfrist – bis zur montenegrinisch-serbischen Grenze, abends fuhr ich zurück, «Jellow Jeff» und meine müden Müskeli kriegten einen Tag Pause.

Die Fahrt durch die Schluchten, Berge und Wälder ist spektakulär, die Panoramen sind atemberaubend, die Fensterscheiben dreckig. Die meisten Fotos, die ich machte, taugen deshalb nichts. Mehr als ein Ersatz ist dieses Youtube-Video.

Auf dem Rückweg von Bijelo Polje nach Bar bleibt unser Zug mitten in den Bergen plötzlich stehen. Die Passagierinnen gucken sich verdutzt an und dann passiert – nichts. Irgendeinmal wackelt der Zugbegleiter durch die Waggons und erklärt knapp, dass die Lokomotive kaputt sei und ausgewechselt werden müsse. Ein «Sorry» hören wir nicht. Die Türen gehen auf und wir vertreten uns draussen die Füsse.

Es ist immer so: Wenn im Bahnverkehr nichts mehr geht, beginnen wildfremde Leute miteinander zu reden. Ich komme mit drei jungen Leuten aus Schweden ins Gespräch. Sie sind lebenshungrig, witzig und voller Energie. Seit Kindsbeinen kennen sie sich, studieren inzwischen in Lund und bereisen Südosteuropa mit dem Interrail – zum Teil zu dritt, zum Teil allein.

Aus dem Nichts ist eine dunkle Wolkenwand aufgezogen und schon geht ein Platzregen darnieder. Wir stürmen in die Waggons, doch es als nur noch nieselt, sind wir schon wieder draussen und geniessen die warmen Regentropfen auf unserer Haut. Es riecht gut. Ein Paar beginnt zu tanzen.

Inzwischen sind zwei Stunden vergangen, und die Ersatzlok hätte schon lange hier sein sollen. «Never mind», unsere Laune und die Themen bleiben gut.

Ich weise die Schweden darauf hin, dass heute doch «Midsommar», das grosse Fest der Sommersonnenwende, gefeiert werde. Das Stichwort reicht und das Trio wieselt davon. Zwei Minuten später stehen sie wieder auf den Geleisen mit Snacks und einer Flasche Rotwein. Weil wir keine Gläser haben, kommt mein Sackmesser zu Einsatz. Wir zerschneiden ein paar Pet-Flaschen, was als Ersatz allemal taugt – und überhaupt: Wein ist Wein. «Skål!»

Irgendeinmal kommt die Ersatzlok doch noch. Wir ruckeln durch die Dunkelheit und kommen tief in der Nacht in Bar an.

Wie ich in der Pampa wieder aufgepäppelt wurde

Inzwischen bin ich seit fünf Wochen mit dem Velo unterwegs. Ich er-fahre den Balkan im Zickzack und habe ein Händchen für Passstrassen, die Stille und atemberaubende Panoramen bieten. Das bedeutet viel Auf und Ab, viel Schweiss und Leiden. Einmal kam ich an meine Grenzen, und davon handelt dieses Posting.

Die Beine sind schwer wie Blei, der Durst quält mich schon seit Stunden. Im Schritttempo rolle ich in das Dorf ein, das ich am Vorabend als Tagesziel festgelegt habe. Die schnelle Recherche ergab, dass es ein stattliches Dorf sein muss. «Stattliches Dorf» bedeutet bei mir, dass es einen Tante-Emma-Laden hat und in der Regel auch Gästezimmer.

Die Realität sieht anders aus: Viele Häuser sind am Zerfallen oder ihre Türen mit Brettern und schweren Kettenschlössern gesichert – Folgen des Kriegs und des Strukturwandels. Es herrscht Totenstille. Das Einzige, was sich bewegt, ist eine Kuh, die widerkäut. «Ein Geisterdorf», flüstere ich und erschrecke ob meiner eigenen Stimme.

Schon den ganzen Tag war ich im Sattel gesessen, die Etappe lang, anspruchsvoll, aber wunderschön. Fast immer fuhr ich auf schmalen Strassen, es herrschte praktisch kein Verkehr. Pro Stunde überholten mich oder kreuzten nicht mehr als ein halbes Dutzend Autos. Sonst gehörte die Pampa mir, und ich radelte und radelte.

Irgendeinmal waren die Bidons leer, aber weit und breit kein Bach, mit dessen Wasser ich sie hätte auffüllen können. «Egal», sagte ich mir, «bei Tante Emma gibt’s wieder Neues.»

Jetzt bin ich da, Tante Emma nicht mehr, aber: ICH BRAUCHE WASSER – JETZT!

Matt schiebe ich mein Fahrrad auf ein Haus zu, das einen bewohnten Eindruck macht, und lehne es an einen Pfosten. Da schiesst aus dem Nichts ein grosser Hund hervor und begrüsst mich euphorisch, so, als wären wir seit vielen Jahren beste Freunde. Er tanzt um mich herum und kann sich fast nicht erholen vor Freude. Ich setze mich zu Boden, streichle ihn ausgiebig und nenne ihn «Perito».

Als er sich beruhigt hat, stemme ich mich hoch. Im Schatten des Hauses sitzt ein älterer Mann und hat mich offenbar beobachtet. Ich versuche, keinen jämmerlichen Eindruck zu machen. «Ja sam… Švicarska… bicikl… nema voda… kaputt», radebreche ich und halte zwei Bidons in die Luft. Übersetzt heisst das: «Ich bin… Schweiz… Fahrrad… kein Wasser… kaputt.»

Mein aktiver Wortschatz in slawischen Sprachen umfasst etwa 300 Wörter, einen grammatikalisch korrekten Satz bringe ich nicht hin. «Kaputt» ist kein Wort auf dem Balkan, aber die Leute verstehen es dennoch.

Der Mann hat eine Glatze und keine Augenbrauen. Er wuchtet sich aus seinem Stuhl, winkt mit der Hand und tappt hinters Haus, ich hinterher. In der Mitte des Gartens steht ein Ziehbrunnen. Ich juble innerlich. Schnell ist der Deckel weggestossen und der Senior wirft einen Kessel hinunter. Ich höre, wie er auf dem Wasser aufschlägt – «platsch!» – und kann mich fast nicht mehr auf den Beinen halten. «Wasser – endlich!»

Am liebsten hätte ich direkt aus dem Kessel getrunken

Routiniert zieht der Hüne den Kessel am Seil hoch, stellt ihn am Brunnenrand ab, und da ist: d a s  W a s s e r. Es schimmert verführerisch in der Sonne. Am liebsten wäre ich in die Knie gesunken, hätte einen langen Hals gemacht und direkt aus dem Kessel getrunken. Mit zittrigen Händen fülle ich meine Bidons, dann gehen wir wieder unter das Vordach des Hauses. Der Mann deutet auf den zweiten Stuhl, ich setze mich und einen Bidon an. Resolut winkt er ab: «Ne!»

Er steht auf, verschwindet in der Küche und kommt mit einem grossen Glas Wasser zurück. Es ist gekühlt, ich sage «Hvala» (Danke) und trinke langsam und in kleinen Schlücken. Nie war Wasser besser als jetzt, nie! Als das Glas leer ist, zeigt mir der Hausherr, wo ich es wieder auffüllen kann. Nach dem dritten Glas fühle ich mich besser und wir beide versuchen eine Konversation. Die Übersetzungs-App auf dem Sklavengrätli mag ich nicht verwenden, das hätte nicht gepasst. Dank dem «Nichtwörterbuch», das mir ein Freund geschenkt hat, kann ich dem Gastgeber mit Piktogrammen und Bildern ein paar Informationen über mich geben.

Da tritt eine Frau vor die Tür. Sie stellt einen Teller mit Brot und Schinken auf den Tisch. Mit der Hand deutet sie auf den kleinen Stall nebenan, aus dem zwischenhindurch Quietsch-Geräusche und würzige Duftnoten herüberwehen. Ich belege die Brotstücke mit ihrem selbstgemachten Schinken und geniesse jeden Bissen. Dazwischen setze ich das Wasserglas an.

Langsam nehme die Umgebung wieder bewusst wahr. Der Garten ist gepflegt, vorne, hin zur Strasse, befinden sich die Blumen. Sie duften und werden von geschäftigen Bienen und ein paar Hummeln umschwärmt. Er erinnert mich an den grossen Garten, den meine Eltern mit viel Fleiss und Liebe pflegten. Die Frau taucht wieder auf und bringt eine Schüssel mit Kirschen. Ich klatsche in die Hände: «Šećar, Zucker!» Sie hat nussbraune Augen und lächelt. Die Kirschen sind reif und süss und sooo gut.

Es ist doch surreal: Da sitze ich irgendwo in der Pampa der Herzegowina und werde von einem wildfremden Ehepaar aufgepäppelt. Der heisse Sommertag ist einem milden Abend gewichen. Ich geniesse die friedliche Stille und das Gefühl, wieder zu Kräften zu kommen.

Kaum zu glauben, dass hier vor 30 Jahren Krieg herrschte. Zwischen 80’000 und 100’000 Menschen kamen dabei um, mit allen Gräueln: Konzentrationslager, systematische Vergewaltigungen, Genozid. Gegen zwei Millionen, die Hälfte der Bevölkerung, leben heute nicht mehr am selben Ort wie vor 1991, sie sind Flüchtlinge im eigenen Land. Zu ethnischen Säuberungen im grossen Ausmass war es hier schon gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gekommen. Zwei Generationen später wiederholte sich die Geschichte.

Schlimm ist, dass sich seit Kriegsende 1995 nur wenig zum Positiven verändert hat. Die grossen radikal-nationalistischen Parteien (SDS, HDZ, SDA), für jede Volksgruppe eine, sind weiterhin an der Macht. (Seit den Nullerjahren hat die SNSD von Milorad Dodik die SDS überholt; er ist der starke Mann der Republika Srpska (nicht zu verwechseln mit Serbien). Wer zu seiner Clique gehört, geniesst Protektion und Privilegien. Als Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums (mit je einem Serben, einem Kroaten und einem Bosniaken) blockiert und hintertreibt er jeden Versuch, das fragile Land zu stabilisieren und vorwärts zu bringen.

In den letzten 25 Jahren habe ich mit vielen Serben, Kroatinnen und Bosniaken (muslimisch-stämmige Bosnier) gesprochen, praktisch alle kritisierten die nationalistischen Parteien massiv. Gewählt werden diese trotzdem, aus Angst, dass die anderen sonst Überhand nehmen könnten. Auf diese Weise wird der Stillstand zementiert und die Nationalisten, diese korrupten Saubanden, scheren sich einen Dreck um das Wohl der Allgemeinheit.

Der Friedensvertrag von Dayton hat zwar den Krieg beendet, aber keine Prosperität gebracht. Hunderttausende von Bosnierinnen und Bosnier sind inzwischen ausgewandert, weil sie in ihrem Land keine Perspektiven sehen. Das ist kultureller Selbstmord. (Ständige Wohnbevölkerung gemäss Wikipedia, 1990: 4,3 Millionen Menschen, 2020: 3,3 Millionen.) Man hätte den nationalistischen Parteien die Teilnahme an den Wahlen von Anfang an verbieten müssen, weil sie alle direkt am Krieg beteiligt waren. Amtsträger während des Krieges hätten auf 20 Jahre ausgeschlossen werden müssen, für irgendwelche anderen oder neue Parteien zu kandidieren. So hätte man diesen Sumpf trockengelegt. Die Weicheier aus dem Westen schafften es nicht.

Und dann rolle ich davon, in den Sonnenuntergang hinein

Ich schüttle die schweren Gedanken ab und schiele zum Gastgeber hinüber. Schliesslich gebe ich mir einen Ruck und stehe auf. «Enegije!», sage ich laut und deute auf meine bescheidenen Bizeps. Der Mann nickt. Ich bedanke mich beim Ehepaar, verabschiede mich von «Perito», mache das Velo startklar und will losfahren. Da steht der Senior neben mir, drückt mir eine Gurke in der Hand und wirkt etwas verlegen. Dann klopft er mir linkisch auf die Schultern und trottet zurück zum Haus.

Ich stecke die Gurke in die Lenkertasche, trete in die Pedale und rolle in den Sonnenuntergang hinein. Kein Motorenlärm stört die Stille, wie ich auf einem Strässchen bergauf radle. Die Energie ist zurück, die Temperatur angenehm, und ich komme zügig voran.

Nach etwa einer Stunde finde ich, dass es für heute reicht. In einer Waldlichtung stelle ich das Zelt auf und beginne zu kochen. Es gibt Penne und gut gewürzte Pelati. Für den zweiten Gang schäle ich die Gurke, schneide sie in feine Scheiben und streue etwas Satz drüber. Den dunklen Balsamico di Modena denke ich mir dazu – funktioniert. Während ich futtere, haben die Vögel ringsum ihr Abendkonzert begonnen.

Die einfachsten Mahlzeiten sind oft die besten, die schwierigsten Tage letztlich die schönsten.

PS:
– Vom Ehepaar und ihrem Garten machte ich keine Fotos, ich getraute mich nicht. Die Aufnahmen in diesem Posting stammen alle von der aktuellen Velotour, die mittlere von jenem Tag in der Pampa.
– Seit diesem Erlebnis habe ich eine weitere Flasche mit Wasser dabei – nur für Notfälle. Eine gewisse Lernfähigkeit ist also vorhanden.
– Mein Interesse für Bosnien kommt nicht von ungefähr: 1996 und 1997 arbeitete ich dort. Konkret: Ich baute eine unabhängige Radiostation auf. Mehr über dieses Projekt und jene Phase gibt es auf meinem beruflichen Blog zu lesen.
– Schliesslich noch etwas Technisches: Wer einen Kommentar hinterlassen möchte, muss Name und E-Mail-Adresse hinterlassen, sonst wird er nicht aufgeschaltet.

Den schönsten Strand liess ich links liegen

Im Frühling 1996 flog ich über die dalmatinische Küste und war hingerissen von der Landschaft und dem intensiven Blau des Wassers. Vorgelagert sind zahllose Inseln, die sich aneinanderreihen wie eine Perlenkette. Ich beschloss, einmal zurückzukehren. Dieser Tage habe ich das Inselhüpfen an der kroatischen Adria versucht. Ganz ohne Frust ging das nicht, «an Yellow Jeff» lag es nicht.  

Nach der Feinplanung waren Brač und Hrvar aussortiert, weil sie zu nahe bei Split und zu touristisch sind. Stattdessen nahm ich die Fähre nach Vis, einer Insel, die früher ein militärisches Schutzgebiet war und erst 1995 für Leute aus dem Ausland zugänglich gemacht worden war.

Die Atmosphäre auf Vis ist entspannt, die Menschen sind freundlich, die Strassen verkehrsarm. «Gut gewählt, Mark!», lobe ich mich selbst.

Mehrere Einheimische empfehlen mir, Stiniva zu besuchen. Das sei laut einer Erhebung der schönste Strand Europas, ergänzen sie nicht ganz ohne Stolz.

Am Sklavengrätli werfe ich Google an und tippe den Namen ein. Tatsächlich wurde Stiniva im Jahr 2016 zu «Europe’s most beautiful beach» gekürt. Mehr als 10’000 Leute hatten sich an der Befragung von Tripadviser beteiligt, über die Methodik bringe ich nichts in Erfahrung.

Von Rankings und Superlativen halte ich wenig, aber meine Neugierde ist geweckt. Am zweiten Tag sattle ich «Jellow Jeff» und radle los. Irgendeinmal kommt ein diskretes Schild, ich biege ab und fahre auf einem schmalen, zuweilen staubigen Strässchen weiter. Fünfzehn Minuten später bin auf einem Parkplatz angelangt. Nichts stört die Stille, nur drei Fahrzeuge dösen in der Hitze vor sich hin, aus der Ferne funkelt das Blau des Meers. «Das könnte etwas werden mit diesem Strand», denke ich vorfreudig und lehne mein Fahrrad an einen Baum.

Zu Fuss geht es weiter, der Marsch dauere etwa eine halbe Stunde, steht im Reiseführer. Ich muss mich konzentrieren, weil der Abstieg steil und anspruchsvoll ist. Nach ein paar Minuten erklingt durch das Dickicht der Sträucher plötzlich – Geschnatter. Es sind Wortfetzen auf Englisch. Kurze Zeit später entdecke ich auf dem schmalen Pfad den ersten Rücken eines Menschen, dann einen zweiten, einen dritten. Schliesslich mache ich 15 Teenager aus, die vor mir bergab stolpern. Sie tragen Flip-Flops und halten ihr Smartphone in der Hand. «Herr, lass Hirn regnen!», murmle ich in einem Anflug von Boshaftigkeit. Die jungen Amis schnattern und schnattern. «You’re filling the air!», war eine meiner Provokationen, als ich in den USA gelebt hatte.

Den hintersten Teil der Gruppe habe ich bald einmal überholt. Ich grüsse freundlich – kein Echo. Die anderen Teenager machen keine Anstalten, mich vorbeizulassen. Meine Laune verschlechtert sich. «Macht doch Urlaub am Santa Monica Beach!», denke ich und tadle mich für meinen Egoismus.

Auf einer Lichtung wird der Blick hinunter plötzlich frei, und ich bleibe wie angewurzelt stehen. In der Bucht liegen sicher zehn Boote und Jachten, zwei weitere brausen gerade in hohem Tempo herein.

Der Landweg ist etwas für Dummköpfe

Da fällt es mir wie Schuppen vor den Augen: «Natürlich, die Touristinnen und Touristen lassen sich so bequem zum Stiniva-Strand bringen, der beschwerliche Landweg ist was für Dummköpfe.»

Wenn sich auf jeder Jacht zehn oder fünfzehn Menschen befinden, sind das…. hach, rechnen bei 35 Grad!… ziemlich viele, die sich am Strand tummeln. Sie schnattern sicher alle, und es gibt es eine Happy-Hour-Bar, das übliche Angebot mit Schnocheln, Muscheln und Souvenirs… ach! Fast sämtliche Klichees, die ein Touristenstrand bietet, jagen durch meinen Kopf und ich tadle mich zum zweiten Mal. Dann mache ich rechtsumkehrt, beginne wieder bergwärts zu stapfen und lasse «Europe’s most beautiful beach» links liegen.

Einen Tag später bin ich auf einer anderen Insel unterwegs. Während der Mittagszeit, die Sonne brennt erbarmungslos auf meinen Nacken, entdecke ich einen Strand, der mich die Mühsal sofort vergessen lässt. Er ist verwunschen, naturbelassen und menschenleer. Stattdessen liegt eine herrliche Ruhe über der Bucht. Ich tauche ein und mache ein paar kräftige Züge im türkisblauen Wasser. «That’s my cup of tea!»

Wie dieser Strand heisst, weiss ich nicht, womöglich hat er gar keinen Namen. Ich hoffe einfach, dass er nie einen «Titel» holt.

PS:
– Von meinem Traumstrand machte ich keine Fotos. Die hier verwendete Symbolbild stammt von einem Strand auf Vis – auch schön, auch menschenleer. Ich übernachtete dort unter freiem Himmel.
– Von Stiniva Beach gibt’s selbstverständlich eine eigene Website, sogar auf Deutsch. Und viele schöne Fotos.

Eine kleine Ode an Italien

Die letzten zehn Tage radelte ich mehrheitlich durch Teile des Piemonts, der Lombardei und der Provinz Emilia-Romagna. Zum Glück hatte ich vor dem Start ein paar Stunden für die Routenwahl investiert. Die Route ging durch endlose Weizenfelder und schmucke Städtchen mit viel Patina, ein paarmal auch durch Siedlungsbrei, grau und hässlich. Meistens war ich auf Nebenstrassen unterwegs, was wenig Verkehr und mehr Höhenmeter bedeutete, aber viel mehr Ruhe und Genuss brachte. Der Flow kam – täglich!

Der pralle Sommer begleitete mich von Domodossola bis vor Ancona. (Am elften Tag pausierte ich in Senigallia, und dann regnete es sanft.) Und noch etwas war allgegenwärtig: die Fröhlichkeit und Gelassenheit der Menschen, denen ich begegnet bin, in den Gasthöfen, auf dem Markt, im Lebensmittelladen oder, wie gerade vorhin, auf der Post, als ich ein Paket aufgab, was für sich alleine ein amüsantes Posting abgäbe. Damit wäre auch geklärt, dass ich die Triage doch noch gemacht habe.

Ich erinnere mich an keinen einzigen Raser, in unübersichtlichen Situationen waren die Automobilistinnen und Lastwagenfahrer rücksichtsvoll, nur einmal, in einem Kreisel, wurde mir der Vortritt verweigert. Ich war überrascht, wie viele gute Radwege es gibt. In Bologna beispielsweise führt eine Spur bis fast ins Stadtzentrum, ohne dass ich etwas vom übrigen Verkehr bemerkt hätte.

Und dann das Essen, amici: DAS ESSEN! In den letzten zehn Tagen habe ich und gut und viel gegessen. Die italienische Küche gilt zwar nicht als «haute cuisine», sie ist dafür währschaft und mit Liebe zubereitet – darum geht’s. Teil des Erfolgs ist das Personal: Die Leute im Service lieben, was sie tun. Ich erlebte sie als aufmerksam, charmant und umsichtig, und ja, sie wussten intuitiv um meinen süssen Zahn. Selten kam ich ohne Dolci davon – was soll’s, nach einer halben Stunde im Sattel ist der Zucker wieder weggestrampelt!

Zwei kurze Geschichten will ich euch nicht vorenthalten. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass ich diese kleinen Ode an Italien schreibe und mit etwas Wehmut die Fähre über die Adria nach Kroatien nehme.

Das Wasserbidon ist leer, der Magen hat zu knurren begonnen, ich komme in der Bruthitze kaum noch voran. Als stoppe ich beim nächstbesten Restaurant und stelle «Yellow Jeff» in den Schatten eines 28-Tönners. Unter dem Vordach sitzen Männer in Unterhemden vor grossen Portionen. Sie schwatzen und alle scheinen sich zu kennen – benvenuti in der Lastwägeler-Beiz.

Kaum habe ich bestellt, will der Chauffeur nebenan etwas über mein Velo wissen. Die anderen hören zu, und dann geht es los mit ihren Fragen: Woher? Wohin? Warum? Ob das denn Ferien seien? Ich muss mich konzentrieren und bringe viele Antworten nur radebrechend hin, zuweilen hilft der Unterbau in Spanisch. Die Italiener stört das nicht, sie haben ein echtes Interesse an diesem ciclista aus der Schweiz. Aber irgendeinmal ist auch die zweite Runde Kaffee durch, sie stehen auf, klopfen mir mit ihren Pranken auf die Schultern und verabschieden sich wie alte Bekannte.

Sie hat kein italienisches Blut und ursprünglich einen anderen Namen

Vera hat dunkle Locken, Pfiff und ein offenes Antlitz. In ihren Adern fliesst kein italienisches Blut und sie hatte ursprünglich einen anderen Namen. Sie ist sich bewusst, dass niemand auf sie gewartet hat und sie mehr leisten muss als andere, um mit ihren Leben voranzukommen. Viel mehr.

Sie hat einen Job und vermietet nebenher ihre Wohnung auf der Plattform von AirBnB, um den Lohn aufzubessern. Das Geschäftliche wickelt Vera effizient und zugleich herzlich ab. Ihre Wohnung hat sie mit wenig Geld, aber viel Geschmack eingerichtet. Überall stehen Blumen – echte Blumen, währenddessen es in den meisten anderen AiBnB solche aus Plastik hat! –, und es riecht nach Sonne. Die Schranktüren in der Küche sind aus Schiefer, so dass sich die Gäste mit Kreide kreativ austoben können – und das taten sie! (Ich Dösel fand das so cool, dass ich die Werke zu fotografieren vergass.) Ihre Wohnung ist wie ein richtiges Zuhause. Wenn Vera Touristen beherbergt, schläft sie bei Bekannten. Veras Geschichte ist diejenige vieler Migrantinnen in Italien.

PS:
Damit ich doch noch etwas kritisiere: Zwei Sachen können sie nicht in Italien: Frühstück und Salatsauce.

Wieso es so schwer ist, leicht zu reisen

Achtzehn Stunden vor meiner Abfahrt ist auf der langen Packliste ein Wort immer noch mit gelber Farbe hinterlegt. Gelb bedeutet, dass dieses Ding noch fehlt.

Sicheren Schrittes betrete ich den Transa im Berner Stadtzentrum. Weil im Laden gerade Flaute herrscht, stürzen sich gleich zwei Verkäufer auf mich. «Was ich dringend brauche, ist ein sehr profaner Gegenstand», hebe ich an. «Etwa fünf Meter lang und am liebsten in einer auffälligen Farbe, sonst geht er wieder verloren.»

Zwei Augenpaare gucken neugierig.

«Ich brauche für mein Velotour eine neue Wäscheleine.»

Verkäufer Nummer 1 wieselt zielstrebig davon. Fünfzehn Sekunden später ist er zurück und meldet: «Nichts mehr hier!» Verkäufer Nummer 2 macht sich am Computer zu schaffen. Zehn Sekunden später, etwas zerknirscht: «Sie liefern erst wieder im August.»

«Sehr gut», antworte ich, «dann wasche ich erst wieder im August!» Sie müssen lachen.

Zu Hause angelangt, beginnt die 12. oder 13. Triage. Der Boden meiner halben Wohnung ist ausgelegt mit dem Material, das auf der Liste steht. In den letzten 11 Sessions hatte ich festgelegt, welche Sachen zwingend mit dabei sein müssen. Diese stapeln sich neben dem Sofa, diejenigen, die als «nice to have» gelten, müssen links an der Wand warten.

Das Problem dieser Sessions: Ich werde immer wieder wankelmütig. Ein Beispiel: Kabelbinder. Klar, die leisten gute Dienste, also sollen ein paar mit. Also lege ich 10 Stück bereit, die anderen 10 kommen auf die linke Seite. Eine Stunde später liegen wieder alle 20 Stück beim Sofa, es könnte ja sein, dass unterwegs andere Bikepacker keine mehr haben oder die Halterung einer Sacoche reisst. Ach.

Ein Abwägen in «Arena»-Länge gibt es bei den Schuhen: Vier Monate nur mit den Velo-Klickschuhen unterwegs zu sein, das wäre würdelos. Aber welche bieten den grössten Nutzen? Die Flipflops mit der Tricolore? Die ausgelatschten, aber immer noch brauchbaren Wanderschuhe? Die glänzenden Gummistiefelchen, die die Füsse auch im Landregen trockenhalten? Die Flusslatschen, die seit Jahren keine Pflegemittel mehr gekriegt haben, weil sie ja ohnehin immer wieder nass werden?

Ich zaudere und zaudere und zugleich hadere ich mit mir: Es ist unendlich schwer für mich, leicht zu reisen.

In all den Jahren bin ich ziemlich gut geworden im Erstellen von Packlisten. Wenn es aber ums Triagieren geht, bleibe ich eine Nuss. So kommt es, wie es kommen muss: Ich starte meine Biketrips stets mit zu viel Gepäck. Kaum keuche ich dann die erste nahrhafte Steigung hoch, fluche ich wie ein Stallknecht.
(Die Geschichte geht nach dem Bild noch weiter. Okay, das ist jetzt der worst cliff hanger ever.)

Donnerstagmorgen. Die grosse gelbe Tasche und die vier Sacochen sind gepackt (mit drei Schuhpaaren drin!). Ich sattle auf und will im Quartier eine Probefahrt machen. Schon nach wenigen Metern merke ich, dass etwas nicht stimmt. Ich sitze wie auf Watte, so unendlich weich wie vermutlich seit Baby-Jahren nicht mehr.

Wieder in der Wohnung stelle ich mich vor den Spiegel und gucke das Füdle genauer an. Es hat unten eine unförmige Ausbeulung. Ich habe es tatsächlich geschafft, eine gepolsterte Velohose über eine gepolsterte Velo-Unterhose anzuziehen.

PS:
Zurzeit bin ich in der Lombardei. Die ersten Tage sind problemlos verlaufen: Es rollt, die Sonne brennt, das rechte Knie hält, ich esse viel und gut. Und alle paar Stunden gumpe ich in einen Fluss oder See. Ohne gepolsterte Velo-Hose, aber das ist eine andere Geschichte.

«I’m addicted to the flow»

The pandemic years are history – hopefully for good. So it’s high time for a large bike trip. All the way from Switzerland to Iran has been on my bucket lists for a many years. Soon, I should be ready to hit the road together with my loyal partner, Yellow Jeff. Office mate Suppino asked me a couple of questions about this journey. 

So, it’s for real, Mark, you’re going to Tehran?

Nope, dude, I’m not going, I’m cycling, C-Y-C-L-I-N-G.

Okay. But why on earth did you chose Tehran?

Well see, Taipeh and Tokyo are simply too fare away from Switzerland. At least for me. (Twinkering with his eyes.)

Would you mind giving proper answers?

Sure, Suppino, would you mind posing smarter questions? (Office mate Suppino is rolling his eyes big time.)

What made you chose the capital of Iran?

Frankly, I don’t care about Tehran, it’s the country. I heard and red from so many cyclists that Iran is stunning – in terms of landscape as well as the hospitality of it’s people. The same applies for Turkey, Armenia and Georgia. I’m truly hoping I can make it, the right knee is my weak spot.

But then, why don’t you fly to Istanbul or Ankara and start cycling there?

There you got a point. But you should not underestimate the beauty of starting a biketrip right in front of your house. The second reason: I’m very curious about the countries in the Balkans. In the nineties, I worked a couple of years in Sarajevo. So, I want to go back, Sarajevo holds a special place in my heart.

It’s an epic trip to Tehran. Are you in shape to ride some 6000 kilometres?

My daily workout happens in the indoor swimming pool. But see, there’s no need to be in a good shape before you start. The good shape comes while you’re cycling. There’s no rush, my bike trips are not about getting there. It’s all about being on the road, it’s about nature, meeting people, food and it’s about the flow. I confess that I’m addicted to the flow as much as I’m addicted to winter swimming in the river (mostly the Aare in Berne). By the way, it’s possible that I’m taking a bus if the weather is bad or I’m exhausted. (Office mate Suppino recalls silently that Mark stressed C-Y-C-L-I-N-G at the beginning of this interview. But since he’s a nice guy he keeps it for himself.)

Talking about people. You’re travelling alone.

Correct. Cycling alone offers two great things: Firstly, you deal intensely with yourself, at the same time you’re open to others or to be approached by others. The countries I’ll be passing, people are warm hearted and they are not rushing through their lives as most of us do in the Western world.

Six years ago, you cycled from Berne to North Cape. What are your learnings from this trip?

I learned a lot, indeed. But what counts is something else: Cycling is freedom.

You’ve got your on company. How do you handle it while you’re on the road?

In fact, this bike trip is a gift since my company turns 20 this year. Business colleagues in my network are taking care of some of my clients, other take a long summer break. Keeping things «on hold» for a while shall be a win-win situation.

Pictures from Marks bike trip will be posted on Instragram.

Mit Mathe und Pasta auf den Stelvio

Das Hochkurbeln am Passo dello Stelvio ist zunächst simple Mathematik: Nach einer Haarnadelkurve hast du 1/48 hinter dir, nach zwei bereits 1/24, nach drei 1/16. Kurz und gut: Die Zahlen verkleinern sich also flott. Deutlich weniger flott war gestern das Tempo beim Aufstieg von Prad her.

Egal, das Rechnen motivierte mich bis zur Kurve Nr. 25 – dann versagten meine Fähigkeiten und ich geriet aus dem Tritt. (25/48 sind nicht greifbar, mehr als die Hälfte wiederum zu profan!) Die Passhöhe war zwar bereits in Sicht, aber noch weit, weit, verdammt weit oben. Es fehlten noch etwa 900 Höhenmeter. Also musste eine neue Ablenkungsübung her.

Ich erfand neue Pastasorten, konkreter: die Namen. Das passt, ich bin ja in Italien. Ein paar Beispiele: Papardelle mixtura tutti frutti, Tre colori per i championi della strada, Suegrone naturale con arome di Parma, Reggaetone giamaicano virtusoso, usw.

Alle Namen probierte ich mit kräftiger Stimme aus. So wurde immer sofort klar, ob sie rund klingen oder noch geschliffen werden mussten. Kurz: Ich redete fast die ganze Zeit vor mich hin, was viele Radfahrer, die mich überholten, zu irritieren schien. Auf alle Fälle guckten sie mich komisch an. «Was halluziniert der am Berg – komplett unterzuckert oder einfach wirr im Kopf?»

Mich kratzte das nicht die Bohne, der Zweck heiligt die Mittel – eco!

Irgendeinmal kam ich auf der Passhöhe an, geschafft, happy und hungrig. Nach dem obligaten Selfie gönnte ich mir Currywurst mit Pommes. Einmal am Tag sollte man auf Velotouren ja gesund essen.

P.S. Den Trick mit den Pastasorten wende ich wieder an, denn der nächste Pass kommt bald, stuzzi cadenti!

Der Flirt im Shopville

 


Gleis 31. Der Zeiger der Bahnhofsuhr hüpft auf sieben Uhr dreissig.
Hunderte von Pendlerinnen und Pendlern quellen aus dem überfüllten Intercity auf das Perron. Dann hasten sie davon, den Blick auf den Boden geheftet. Die Gesichter sind ausdruckslos, der Beton kalt, das Licht der Lampen grell. Die Atmosphäre ist steril wie in einem Chemielabor, ein eisiger Wind bläst, der Novemberblues potenziert sich – willkommen im Untergrund des Bahnhofs Zürich. Gegen 450’000 Leute eilen hier täglich durch die endlosen Gänge, unterwegs von A nach B.

Ich lasse mich von der Menge mittreiben. In einem Take-away hantiert ein junger Mann geschäftig herum, von anderswo wimmert Gary Moores traurige Gitarre. Das Shopville ist charmefrei.

Plötzlich tritt mir aus dem Nichts jemand in den Weg, ich stoppe abrupt. Vor mir steht eine vielleicht 40-jährige Frau, halblange blonde Haare, dezent geschminkt, Business-Look. Bürokollege Suppino hätte ihr sofort das passende Adjektiv verpasst: apart.

Es ist sieben Uhr zweiunddreissig und mein Hirn beginnt zu rattern. Will die mir eine Versicherung aufschwatzen? Mich bekehren? Auf der Stelle heiraten?

Die Blondine beginnt zu sprechen. In akzentfreiem Züridütsch sagt sie: «Grüezi, Si, chönnd Si mir sägä, wo d Bahnhofstrass isch?»

Ich zupfe an meiner Nase, gucke wohl ziemlich überrascht und verbeisse den dümmlichen Kommentar, der sich sofort aufgedrängt hat. Wieso fragt eine Zürcherin ausgerechnet mich, einen Berner mit Aargauer Wurzeln, wo die Bahnhofstrasse ist? Wie plump ist das denn, denke ich. Wenn die Dame nach dem Moods, dem Travel Bookshop im Niederdorf oder dem Bernhard-Theater gefragt hätte, wäre ich vermutlich schwach geworden und hätte ihr meine Handynummer gegeben.

Stattdessen durchzuckt mich ein fieser Gedanke: Ich will diese Episode auskosten. Bevor ich meinen Mund öffne, hole ich tief Luft und beginne dann, langsam zu sprechen. Richtig langsam. Es ist nicht einfach angelerntes Bärndütsch, nein, es ist Bärndütsch à la «Flügzüg», dem famosen Komikerduo, das die Berner Langsamkeit beim Sprechen herrlich zelebriert und verkompliziert.

«Itz göht Dir eifach hie d’Stägä ufä u när immer grediuus. Scho öppe zwöihundert Meter immer grediuus, gäuit, u am Ändi vom Gleis, auso dert, wo aui Gleis ände, bieget Dir nach rächts ab bis zur Routräppe.»

Meine Lungen sind leer, ich atme langsam und geräuschvoll ein. Die Frau vor mir guckt mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Irritation an. Meine Zunge fährt im Johann-Schneider-Ammann-Tempo über die Lippen, dann fahre ich fort: «Uf dr Routräppe, auso eigentlich mit dr Routräppe zäme, gäuit, fahret Dir i ds erste Ungergschoss. We d’Routräppe u Dir unge syt, auso eigentlich Dir beide zäme, göht Dir wider eleini grediuus, auso ohni Routräppe, bis es nümme wyter grediuus geit, und nächär links. Dert hets ä Stägä u diä göht Dir ufä. We Dir a dr früsche Luft obe acho syt, syt Dir am richtige Ort, a dr Bahnhofstrass.»

Der Gesichtsausdruck der Zürcherin hat sich inzwischen komplett verändert. Sie guckt mich entgeistert an. Hastig murmelt sie «Danke», macht auf hohen Absätzen kehrt und weg ist sie. Es ist sieben Uhr fünfunddreissig, und ich habe mich noch nie bernischer gefühlt als gerade jetzt. «Yesss!» Meine linke Faust fährt geballt in die Höhe, wie alben bei den Schüttelern, wenn sie ein Tor erzielt haben. Im Schaufenster kontrolliere ich, ob die Pose cool aussieht.

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Disclaimer: Was ich hier schildere, erlebte ich vor genau zwei Jahren und hielt es damals in einem Facebook-Posting fest. Gestern erinnerte mich Facebook daran, und ich musste schmunzeln. In Zeiten der Pandemie ist flirten deutlich anspruchsvoller geworden.

Diese Kurzgeschichte schaffte es aber zwischen zwei Buchdeckel, zusammen mit 23 anderen Geschichten von 23 anderen Autorinnen und Autoren; jede wurde wunderbar illustriert von «Lopetz». (Ein animiertes Beispiel finden Sie nach dem Werbeblock ganz unten. Es zeigt im Zeitraffer, wie eine Illustration entsteht.) Das schlanke schöne Buch heisst «dazwischen. Unterwegs mit 24 Pendlergeschichten». Sie können es im Handel bestellen oder mit einer simplen E-Mail an info@border-crossing.ch – unter zeitgleicher Überweisung von CHF 28.00 pro Exemplar an folgende IBAN: CH12 0900 0000 6057 7443 6, Lautend auf: Border Crossing AG, Schwanengasse 11, Postfach, 3001 Bern. Ich bleibe dabei: Dieses Buch ist ein ideales Geschenk.

Du dumme Kuh, du!


Auf anspruchsvollen Velotouren
werden meine Beine gegen Schluss oft schwer. Oder es kommt ein fieser Hoger. Viele Radfahrerinnen und Radfahrer schwören in solchen Situationen auf Energieriegel. Eine gute Kollegin weiss sich anderweitig zu helfen: Sie zählt stumm und im Rhythmus auf vier, immer wieder aufs Neue. Wenn es sein muss, zieht sie das durch, bis sie ihr Tagesziel erreicht hat.

Diese Technik probierte ich übers Wochenende aus, als ein Aufstieg nicht mehr enden wollte, die Kraft aber zusehends schwand. «Eins, zwei, drei, vier», murmle ich leise leidend vor mich hin. Die Zahlen nenne ich stets dann, wenn das linke Knie gestreckt ist. Nach wenigen Minuten wird mir das zu monoton. Also ergänze ich mit Fremdsprachen. Dazu nehme ich Bosnisch und Dänisch, weil ich in beiden Sprachen zählen und fluchen kann.

eins – zwei – drei – vier
uno – due – tre – quattro
un – deux – trois – quatre
un – dos – tres – cuatro
one – two – three – four
jedan – dva – tri – cetiri
en – to – tre – fire

Die Ablenkung wirkt, das Velofahren ist weniger anstrengend als zuvor, der Schweiss fliesst weiter. Ich suche eine weitere Herausforderung und wechsle die Sprache nach jeder Zahl, also zum Beispiel «Eins, dos, tri, quatre».

Die neue Methode verlangt meine volle Konzentration, zum Glück fahre ich nur langsam bergan. Ich zähle jetzt mit halblauter Stimme und habe meinen Blick stur auf das Vorderrad geheftet. Mein Hirn muss hart arbeiten.

Plötzlich zucke ich zusammen: Vor mir sind lange graue Beine aufgetaucht, geistesgegenwärtig ziehe ich die Bremsen. Einen knappen Meter vor dem Viech kommt mein Göppel zum Stillstand. Mein Herz schlägt laut, die Kuh, die vor mir steht, glotzt mich nur dumm an. Auf ihrer Nase krabbeln Fliegen herum. Bockstill steht sie auf dem Strässchen und glotzt mich einfach unverwandt an. Ob es an meinem Velodress liegt, der an Borat erinnert?

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen bin, bemühe ich aus unerfindlichen Gründen den Balkan-Slang: «Ey, du Chueh, du! Putz di uf d Site, Mann! Ich mues do dure, Mann!»

Die Kuh macht keinen Wank. Sie glotzt mich nur an.

Ich hätte «Jellow Jeff» links oder rechts um die Kuh herumstossen können, dann aufsitzen und wieder lospedalen. Aber das gibt mir der Kopf nicht zu, ich will Kuhbändiger sein.

Es muss ein Mix aus Erschöpfung, viel Sonne und Höhenluft sein: Plötzlich brechen aus mir Fluchwörter heraus, viele Fluchwörter – auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Dänisch und Bosnisch. Ich f l u c h e mit lauter Stimme, kunterbunt durcheinander und vermutlich fuchtle ich auch mit den Händen herum.

Plötzlich versiegt der Schwall, es ist wieder still. Die Sonne brennt und die Fliegen krabbeln immer noch auf der Nase herum. Der Kuh ist die Sache offenbar nicht mehr geheuer. Sie wendet sich ab und trottet davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Fazit:
Ich erreichte mein Tagesziel, habe eine neue Ablenkungsmethode für mich entdeckt, die allerdings nicht ganz gefahrlos ist, und bin jetzt Dumme-Kuh-Bändiger. Von Sachverständigen liess ich mir inzwischen erklären, dass Kühe keine Fluchttiere sind.

«Bike to Work» am arbeitsfreien 1. August

Die Etappen meiner diesjährigen Sommertour über die Alpen hatte ich präzis geplant. So ist es kein Zufall, dass ich am 1. August den Gotthardpass hinaufkurbelte. Ich wollte am Bundesfeiertag über unser Land nachdenken, während ich dieses gigantische, geschichts- und symbolträchtige Bergmassiv leise keuchend von allen Seiten bestaunte.

Es war ein Zufall, dass just während einer Verschnaufpause der mobile Hirnikocher vibrierte. Am anderen Ende SRF-Redaktorin Ivana Imoli. «10vor10» würde etwas zum 25-Jahr-Jubiläum des arbeitsfreien 1. August machen, der auf eine Volksinitiative zurückzuführen ist. Ob ich dazu Auskunft geben könne, fragte sie. «Nun ja», druckste ich herum, im Prinzip schon. Aber ich würde derzeit auf der alten Gotthardstrasse kleben, und das in einem Velodress, was bei mir besonders lächerlich aussehe. Imoli musste lachen.

Wir fanden einen Ausweg: Ich fuhr die Etappe zu Ende, duschte im Hotel und kurz darauf rauschte auch schon ein «10vor10»-Duo mit dem Auto heran. Der routinierte Kameramann fand im Nu einen guten Standort, um das Gotthardmassiv und meine Soundbites einzufangen.

Fazit: Ich fuhr am 1. August ziemlich weit zur Arbeit. Das war «Bike to Work adapted»! Als Belohnung konnte ich heute die Tremola hinunterbre-t-t-t-t-ern, 12 Kilometer und viele wunderbare Haarnadelkurven ging es nidsi.

Den Hintergrundbeitrag von «10vor10» zum 1. August gibt es hier zum Nachschauen.